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Baberowski / Feest / Hacke

Arbeit an der Geschichte

Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft?

Medium: Buch
ISBN: 978-3-593-39149-6
Verlag: Campus Verlag GmbH
Erscheinungstermin: 08.02.2010
Lieferfrist: bis zu 10 Tage
Die Beiträge des Bandes widmen sich der umfassenden Frage, was die Theorie für die Geschichtsschreibung leisten kann. Brauchen Historiker überhaupt Theorien? Und welche Rolle spielen speziell Theorien von Repräsentation in der Geschichtswissenschaft? Es kommen unter anderem Autoren zu Wort, die an historischen Fallbeispielen zeigen, was mit Theorien anzufangen ist und wie Geschichten erzählt werden müssen, die sich auf die Theorie berufen.

Produkteigenschaften


  • Artikelnummer: 9783593391496
  • Medium: Buch
  • ISBN: 978-3-593-39149-6
  • Verlag: Campus Verlag GmbH
  • Erscheinungstermin: 08.02.2010
  • Sprache(n): Deutsch
  • Auflage: 1. Auflage 2010
  • Serie: Eigene und fremde Welten
  • Produktform: Kartoniert
  • Gewicht: 222 g
  • Seiten: 155
  • Format (B x H x T): 141 x 213 x 15 mm
  • Ausgabetyp: Kein, Unbekannt

Autoren/Hrsg.

Autoren

Baberowski, Jörg

Feest, David

Hacke, Jens

Houben, Vincent

Jones, Priska

Schilling, Ruth

Herausgeber

Baberowski, Jörg

Weitere Mitwirkende

Baberowski, Jörg

Feest, David

Hacke, Jens

Houben, Vincent

Jones, Priska

Pohlig, Matthias

Schilling, Ruth

Inhalt

Was sind Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel?
Anmerkungen zu einer Geschichte interkultureller Begegnungen. 7
Jörg Baberowski

Repräsentationen und Konstruktionen: Wie viel Erkenntnistheorie
braucht die Geschichtswissenschaft?. 19
David Feest

Wandel und seine Repräsentation. 37
Matthias Pohlig

Visuelle Repräsentationen im politischen Kontext:

Formen und Funktionen. 63
Priska Jones

Kollektive Identität ohne Differenz und Repräsentation:

Jürgen Habermas in der Diskussion. 79
Jens Hacke

Kollektive Identität – Repräsentationen von Kollektiven:

Zwei Modelle zur Erfassung von Gruppenprojektionen
in der Frühen Neuzeit?. 101
Ruth Schilling

Brauchen Historiker Theorien?
Erfahrungen beim Verfassen von Texten. 117
Jörg Baberowski

Schreibweisen und Theorien der außereuropäischen Geschichte
am Beispiel Südostasiens. 129
Vincent Houben

Autorinnen und Autoren. 155

Was sind Repräsentationen sozialer Ordnungen im
Wandel? Anmerkungen zu einer Geschichte
interkultureller Begegnungen
Jörg Baberowski

'Kulturgeschichte treiben', sagt Roger Chartier, heißt, 'den Betrieb der Repräsentation
zu untersuchen'. Denn die Strukturen der sozialen Welt seien 'keine
objektiven Gegebenheiten', sondern Produkte politischer, gesellschaftlicher und
diskursiver Praktiken. Was Chartier vor 15 Jahren noch als Aufgabe formulierte,
ist heute anerkannte Einsicht. Es kommt nicht länger darauf an, die Welt zu
beschreiben, wie sie an sich ist, sondern wie Menschen sie gesehen haben. Der
Abgrund zwischen Wirklichkeit und Repräsentation ist überwunden, die Wirklichkeit
zu einem Modus der Repräsentation geworden. Wie aber stellen Repräsentationen
Ordnungen her? In welchen Ordnungen entstehen welche Repräsentationen?
Und wie verändern sich Repräsentationen und Ordnungen, wenn
es zu Begegnungen zwischen Menschen kommt? Eine zureichende Antwort auf
diese Fragen wird man nur bekommen, wenn man sich darüber verständigt hat,
was Repräsentationen sind und in welchem Verhältnis sie zu den Ordnungen
stehen, die sie ausrichten. Diese Frage lässt sich leichter beantworten, wenn zuvor
entschieden worden ist, welches Verständnis von Repräsentationen man ausschließen
möchte.

1. Sie sind keine Bezeichnung für repräsentative Institutionen oder Körperschaften,
die Interessen vertreten oder den Willen von Menschen repräsentieren.
2. Sie sind keine bloßen Abbilder der gesellschaftlichen oder politischen Strukturen,
über die sie Auskunft geben.
3. Hier wird auch nicht die erkenntnistheoretische Frage erörtert, welcher Zusammenhang
zwischen der Wirklichkeit und den Vorstellungen besteht, die
man sich von ihr macht. Was hier zur Sprache kommt, beruht auf der Prämisse,
dass Wirklichkeit nur als vorgestellte und begriffene Wirklichkeit verstanden
werden kann. Es wird also vorausgesetzt, dass zwischen derWirklichkeit
und ihrer Repräsentation kein Abgrund besteht, der überwunden werden
muss.

Der Repräsentationsbegriff ermöglicht es, Handeln und (kulturelles) Wissen in
einen Zusammenhang zu bringen. In diesem Verständnis sind Repräsentationen
Organisationsformen des Wissens, Muster der sinnhaften Verarbeitung von Lebensverhältnissen
und kollektiven Erfahrungen, dieMenschen ermächtigen, sich
in der historischen, sozialen oder politischen Realität zurechtzufinden. Anders
gesagt: Wir könnten die Welt nicht verstehen, wenn wir sie nicht auf Begriffe
brächten oder in Symbolen oder Bildern darstellten und damit für uns und
andere festhielten. Die Repräsentation des Erfahrenen ermöglicht es Menschen
überhaupt erst, etwas zu wissen und es anderen mitzuteilen. Wenn wir nicht
die Gabe besäßen, Erfahrungen aufzubewahren, weiterzuerzählen und ihnen eine
dauerhafte Gestalt zu geben, könnten wir einander nicht mitteilen, wie wir
die Welt sehen und erfahren haben. Um es mit Ernst Cassirer zu sagen: Der
Mensch kann der Welt nicht unmittelbar gegenübertreten, er kann seinen eigenen
Erfindungen nicht entkommen. Statt mit den Dingen, hat er es immer
nur mit sich selbst und den Repräsentationen zu tun, die sein Wissen ordnen.
Die Repräsentationen schieben sich zwischen uns und die Wirklichkeit, aber sie
verstellen unseren Blick auf die Welt nicht, sie machen ihn im Gegenteil erst
möglich. So gesehen eröffnen Repräsentationen Handlungsmöglichkeiten, sie
beschränken sie aber auch, weil sie keine beliebigen Optionen eröffnen.
Repräsentationen sind also Darstellungsformen des Wissens, die es Menschen
überhaupt erst ermöglichen, sich eine Welt zu errichten. Wo etwas zum
Ausdruck gebracht wird, äußert es sich in symbolischen Formen, in Repräsentationen.
Mit ihnen erschließen wir die Welt, in der wir leben. Was Identität genannt
wird, ist eine Leistung der Repräsentationspraktiken, die uns und anderen
zeigen, was und wer wir sind. Nur wer sich und die anderen identifizieren kann,
hat eine Identität. Aber wir verstehen eine Lebensäußerung oder einen Ausdruck
nur in vertrauten Situationszusammenhängen. Wir sind immer schon Teil einer
symbolischenWelt, bevor wir uns und andere verstehen. Menschen nehmen
das Eigene und das Unvertraute zunächst in ihrer Ausschließlichkeit war. Der
Kulturessentialismus ist eine Folge der Stereotypisierung, ohne die Menschen
einander nicht als Andere benennen können. Daher kommt es, dass in den meisten Fällen unverstanden bleibt,
was sich nicht in der Welt des Bekannten und
Vertrauten bewegt, wenn sich Menschen aus unterschiedlichen Kulturen begegnen.
Man könnte auch sagen, dass Repräsentationen kulturell variable Formen
symbolischer Welterschließung sind, die nur jenen zugänglich sind, die in der
Kultur leben, in der diese Repräsentationen einen Sinn ergeben. Nur im kulturell
Eigenen kann der Mensch ein Selbstsein entwickeln und es sich von den
Seinen bestätigen lassen. Denn wer etwas immer wieder sagt, erlebt, dass das
Gesagte im Sprechen ein Eigenleben entwickelt und zum Teil einer allgemeinen
Sprache wird, in der sich auch die Zuhörer bewegen. Das Sprechen spricht in der
Kultur und macht sich darin verständlich. So kommt es, dass Menschen sich die
Welt in den überlieferten Repräsentationen vertraut machen. Sie wollen Neues
entdecken, aber sie wollen auch, dass ihre Welt stabil bleibt. Deshalb heben sie
das Unvertraute mit ihren Repräsentationen auf. Wir machen die fremde Welt
zu unserer Welt, und schon bewegen wir uns wieder im Vertrauten.
Nur wo es einen übergreifenden Verstehenszusammenhang, eine gemeinsame
Ausgelegtheit derWelt gibt, ist ein Gespräch möglich.Wenn der gemeinsame
Orientierungsrahmen fehlt, kann es zu Missverständnissen oder zum Abbruch
der Verständigung kommen. Darin zeigt sich die Spannung jeder interkulturellen
Verständigung. Gleichwohl ist jede Kultur auf die Existenz fremder Repräsentationen
angewiesen, sie braucht sie, um sich ihrer eigenen Repräsentationen
zu vergewissern. Das aber bringt Menschen in die Möglichkeit, sich selbst zu
beobachten, sich vom anderen herausfordern zu lassen, sich zu verändern und
Fremdheit durch Verstehen aufzulösen, im Wissen, dass die anderen an der Lesart
der eigenen Kultur mitarbeiten. Denn andere Kulturen sind nur andere Sinnverhältnisse,
und als solche sind sie menschlichem Verstehen zugänglich. Darin
liegt die Bedeutung der symbolischen Repräsentationen für das Verstehen jenes
Geschehens, das wir Kultur nennen und dessen Möglichkeiten wir in verschiedenen
historischen Kontexten untersuchen.
Kulturwissenschaftler, die wissen wollen, wieMenschen dieWelt gesehen haben,
müssen die Repräsentationen untersuchen, mit deren Hilfe eine Erschließung
und Veränderung der Welt überhaupt nur möglich ist. Denn sie wollen
nicht wissen, wie die Welt an sich ist, sondern wie Menschen glauben, dass sie
beschaffen ist und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus für sie ergeben.
Menschen leben nicht in festen, abgeschlossenen Ordnungen, sondern sie stellen
sie her, sie schaffen ihre eigene Welt, indem sie die vorhandenen Ordnungen, in
die sie hineingeworfen sind, herausfordern.
Wer sich der Erforschung von Repräsentationen zuwendet, hat es nicht nur
mit Texten und Gesprächen zu tun. Auch Bilder und Zeichen, Inszenierungen
und Performanzen sind Repräsentationen. 'Eine Geschichte ohne das Imaginäre
', sagt Jacques Le Goff, 'ist eine verstümmelte, entleibte Geschichte'. Bilder
sind aber nicht nur Ausdruck sozialer Ordnungen, sie sind zugleich Zeugnisse
dafür, wie Menschen ihre Sicht auf die Welt festhalten und mitteilen. Bilder
sind also keine Abbilder und Anzeichen, sie sind Bewegungskräfte, die Meinungen
visualisieren, rechtfertigen oder delegitimieren. Bilder, stehende wie bewegte,
mobilisieren Emotionen, sie produzieren und verändern Vorstellungen.
Inschriften, Denkmäler, Straßen, Plätze und Gebäude verändern das Lebensgefühl
und die Vorstellungen von Menschen; sie geben den Wahrnehmungen eine
Struktur.Wer dächte dabei nicht an die Einschüchterungsarchitektur der Staatsgewalt,
an imposante Gerichtsgebäude, breite Straßen und große Plätze, die das
Raumgefühl und die Vorstellung von der Herrschaft wahrscheinlich stärker beeinflussten
als Gesetze, Verordnungen oder Kampagnen. Die modernen Diktaturen
des 20. Jahrhunderts waren deshalb vor allem visuelle Diktaturen, die sich
in die Köpfe und Seelen ihrer Untertanen einzuschreiben versuchten.