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Beckert

Erben in der Leistungsgesellschaft

Medium: Buch
ISBN: 978-3-593-39867-9
Verlag: Campus Verlag GmbH
Erscheinungstermin: 18.04.2013
Lieferfrist: bis zu 10 Tage
Kaum eine Institution ist für die Reproduktion sozialer Ungleichheit so bedeutsam wie die Vererbung von Vermögen. Doch Erbschaften widersprechen dem Leistungsprinzip, mit dem in modernen Gesellschaften soziale Ungleichheit gerechtfertigt wird. Wie gehen wir mit diesem Widerspruch um? Welche Kontroversen entspannen sich um die Vermögensvererbung? Welche normativen Ansprüche werden im Erbrecht reguliert? Mit Bezug auf die Erbschaftssteuer, das Pflichtteilsrecht und die wirtschaftlichen Folgen erbrechtlicher Regulierung diskutiert Jens Beckert diese Fragen.

Produkteigenschaften


  • Artikelnummer: 9783593398679
  • Medium: Buch
  • ISBN: 978-3-593-39867-9
  • Verlag: Campus Verlag GmbH
  • Erscheinungstermin: 18.04.2013
  • Sprache(n): Deutsch
  • Auflage: 1. Auflage 2013
  • Serie: Theorie und Gesellschaft
  • Produktform: Kartoniert
  • Gewicht: 315 g
  • Seiten: 246
  • Format (B x H x T): 141 x 213 x 20 mm
  • Ausgabetyp: Kein, Unbekannt

Autoren/Hrsg.

Autoren

Beckert, Jens

Jens Beckert ist Professor für Soziologie und Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln.

Inhalt

Dank. 7
Einleitung. 9

Teil I • Erbschaft und Moderne

Sind wir noch modern? Erbrecht und das gebrochene Versprechen der Aufklärung. 23
Im Würgegriff der toten Hand, Mit Peter Rawert. 37
Erbschaft und Leistungsprinzip: Dilemmata liberalen Denkens. 41
Lachende Erben? Leistungsprinzip und Erfolgsorientierung am Beispiel der Eigentumsvererbung. 65
Erbschaft als unverdientes Vermögen und als Kapital für Investitionen und Arbeitsplätze. 73

Teil II • Die historische Entwicklung des Erbrechts

Die longue durée des Erbrechts: Diskurse und institutionelle Entwicklung in Frankreich, Deutschland und den Vereinigten
Staaten seit 1800. 87
Demokratische Umverteilung: Erbschaftsbesteuerung und meritokratisches Eigentumsverständnis in den USA. 129

Teil III • Erbschaftssteuern

Wie viel Erbschaftssteuern?. 153
Der Streit um die Erbschaftssteuer. 179

Teil IV • Aktuelle Herausforderungen für das Erbrecht

Familiäre Solidarität und die Pluralität moderner Lebensformen: Eine gesellschaftstheoretische Perspektive
auf das Pflichtteilsrecht. 195
Gesellschaftspolitische Herausforderungen für das Erbrecht. 217

Literatur. 229
Quellen. 245

Sind wir noch modern? Erbrecht und das gebrochene Versprechen der Aufklärung

Seit über zweihundert Jahren zählt die Regulierung des Vermögensübergangs
von Todes wegen zu den Hauptanliegen von Sozialreforme rn. Im 18. und 19.
Jahrhundert wurde die Reform des Erbrechts ein dringendes Anliegen von Denkern
und Politikern wie Montesquieu, Rousseau, Mirabeau, Thomas Jefferson,
Alexis de Tocqueville, Blackstone, Hegel, Fichte und John Stuart Mill. Sie alle
waren sich über die Bedeutung einig, die ein Erbrecht, das auf den Prinzipien
der Individualität, der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie und der Gleichheit
aller vor dem Gesetz beruht, für die Umgestaltung der gesellschaftlichen
und familiären Ordnung hat.

Sozialreformer hielten die private Vererbung von Vermögen oft für äußerst
problematisch. Die Reform des Erbrechts wurde daher als ein wesentliches Instrument
der Gesellschaftsreform betrachtet, mithilfe dessen die feudale Ordnung
aufgelöst und die bürgerliche Ordnung verwirklicht werden konnte. Sozialreformer
verbanden mit der Vermögensvererbung die für aristokratische Gesellschaften
charakteristische Perpetuierung von Statusprivilegien, die im Widerspruch
zu grundlegenden bürgerlichen Werten wie Gleichheit und Leistungsorientierung
stand. Diese Werte sind aufs Engste mit der Entfaltung der modernen
Gesellschaft verbunden. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1951)
etwa beschrieb Gesellschaftsentwicklung anhand der von ihm defi nierten fünf
pattern variables, die je zwei entgegengesetzte Ausprägungen zur Beschreibung der
Grundstrukturen sozialer Beziehungen und Institutionen vorsehen. Während
die sozialen Beziehungen in traditionellen Gesellschaften durch Affektivität,
Kollektivorientierung, Partikularismus, Diffusität und Askription gekennzeichnet
sind, werden sie in modernen Gesellschaften durch affektive Neutralität,
Selbstorientierung, Universalismus, Spezifi tät und Leistung charakterisiert.

Im Folgenden werde ich die in einer der Pattern Variables zum Ausdruck
gebrachte Gegenüberstellung näher erörtern: den Unterschied zwischen Askription
und Leistung. Unter Askription versteht man die institutionelle Zuweisung
eines sozialen Status, basierend auf Merkmalen, die einem Menschen qua Geburt
zugeschrieben werden. Einer Person werden bestimmte Rechte, Pfl ichten,
Rollen oder Privilegien übertragen, die auf der sozialen Stellung ihrer Eltern oder auf Merkmalen wie Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit oder Nationalität
beruhen. Demgegenüber besagt der Begriff 'Leistung', dass Vermögen
und sozialer Status aufgrund des tatsächlichen Leistungsbeitrags der Gesellschaftsmitglieder
verteilt werden.

Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die Vermögensübertragung von Generation
zu Generation schwer mit den normativen Prinzipien moderner Gesellschaften
vereinbar. Ererbtes Vermögen fällt dem Erben 'mühelos' zu, durch den
Tod eines anderen. Indem die Vermögensvererbung den Fortbestand sozialer
Privilegien sichert, steht sie im Widerspruch zu einer Vermögensverteilung, bei
der Ungleichheit auf unterschiedlichen individuellen Leistungsbeiträgen beruht.
Außerdem verletzt die Vermögensvererbung das Prinzip der Chancengleichheit,
das möglichst gleiche Startbedingungen für alle verlangt. Wie lässt sich die 'unverdiente
' Erlangung von Vermögen im Kontext einer Gesellschaftsordnung
rechtfertigen, die soziale Ungleichheit als Ergebnis der unterschiedlichen persönlichen
Leistungsbeiträge ihrer Mitglieder legitimiert?

Doch ist für unsere heutigen Gesellschaften die Vermögensübertragung von
Generation zu Generation wirklich noch ein Problem? Das Thema der Vermögensvererbung
beschäftigte Sozialreformer von der Aufklärung bis zur Mitte des
20. Jahrhunderts, als es aus der öffentlichen Debatte fast gänzlich verschwand.
Heutzutage ist es ein Randproblem, das zwar gelegentlich auftaucht, aber keine sozialpolitischen
Kontroversen mehr entfacht. Doch diese Beobachtung ist, für sich
allein genommen, nicht interessant. Denn man könnte ja vermuten, dass das Recht
nach einhundertfünfzig Jahren der Reform schließlich 'modern' geworden ist und
sich der sozialpolitische Diskurs anderen Themen zuwenden kann. Ich werde jedoch
zeigen, dass dies nicht die ganze Geschichte ist. Vielmehr können wir seit
vierzig Jahren in entscheidenden Bereichen des Erbrechts einen backlash beobachten,
durch den mit dem Versprechen der Aufklärung gebrochen wird, Askription
durch Leistung zu ersetzen. Daher also die Frage: 'Sind wir noch modern?'

Zunächst werde ich drei Reformbereiche des Erbrechts darstellen, die für liberale
Reformer seit dem späten 18. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung
sind: Änderungen des gesetzlichen Erbrechts, die Abschaffung der Fideikommisse
sowie die Einführung einer progressiven Erbschaftssteuer. Ich werde zeigen,
wie die Änderungen in diesen Rechtsbereichen als Anerkennung der Werte
Gleichheit, Leistungsorientierung und soziale Gerechtigkeit aufgefasst werden
können. Anschließend werde ich darlegen, dass in zweien dieser Bereiche seit
vierzig Jahren eine Gegenbewegung zu verzeichnen ist, die die früheren Errungenschaften
deutlich schmälert.

Doch ist all das wirklich problematisch? Müssen wir uns immer noch um
die Debatten kümmern, die vor zweihundert Jahren mit Leidenschaft geführt
worden sind? Sind die normativen Prinzipien des 18. und 19. Jahrhunderts heute noch relevant? Im letzten Teil werde ich die Frage erörtern, welche Bedeutung
die diagnostizierte Gegenbewegung für die Gesellschaft und für das Konzept
der Modernisierung hat.

1 Erbrecht und Familie

Zunächst also zu den Reformen des gesetzlichen Erbrechts und ihren Folgen
für die familiären Beziehungen.

Historische Analysen zeigen, dass den Reformen des Erbrechts eine entscheidende
Bedeutung für politische und gesellschaftliche Modernisierungsprozesse
beigemessen wurde (Beckert 2004). Eines der Ziele der Erbrechtsreformen
des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts bestand darin, die Struktur von
Familienbeziehungen zu ändern. Diese Änderungen wurden gleichzeitig als Teil
der Reformen der politischen Ordnung betrachtet. Die Erbrechtsreform, die in
Frankreich während der Revolution erfolgte, bringt dies klar zum Ausdruck. Sie
zielte auf eine Änderung der Familienstrukturen, indem sie Gleichheit zwischen
den Kindern anstrebte, die väterliche Willkür bei Erbentscheidungen reduzierte
und mit der dynastischen Reproduktion von Reichtum in den Adelsfamilien
brechen wollte. Der durch die Erbrechtsänderungen bewirkte Wandel der Familienstrukturen
war außerdem ein Mittel, um die gesellschaftlichen Bedingungen
für demokratische politische Strukturen zu schaffen. In Frankreich betrachtete
man die auf größerer Gleichheit beruhenden Familienbeziehungen als die Fundamente,
auf denen die Sozialstrukturen des neuen politischen Gemeinwesens
errichtet werden sollten. In einer immer wieder verwendeten Metapher wurde
die Familie als die 'Zelle' der Nation beschrieben, deren Struktur entscheidenden
Einfl uss auf die Beschaffenheit der politischen Ordnung haben würde. Familienangelegenheiten
waren somit auch immer eine 'affaire d’État'.

Diese normativen und politischen Überzeugungen spiegelten sich in verschiedenen
Reformen wider. Die erste war die Abschaffung des Erstgeburtsrechts, die
in dieser Zeit in den meisten europäischen Ländern erfolgte. Bemerkenswerte
Ausnahme war England, wo dieses Recht erst 1925 abgeschafft wurde. In feudalistischen
Gesellschaften spielte das Erstgeburtsrecht eine wichtige Rolle bei der
generationenübergreifenden Bewahrung wirtschaftlicher und politischer Macht,
weil das Vermögen im Erbgang nicht zwischen den Geschwistern aufgeteilt wird.
Seine Abschaffung trug dazu bei, mit dieser Gesellschaftsordnung zu brechen.

Weitere Reformen des gesetzlichen Erbrechts betrafen die Gleichstellung
von Söhnen und Töchtern sowie die Rechte des überlebenden Ehepartners am
Nachlass des Verstorbenen. Während Söhne und Töchter die Gleichheit vor dem Gesetz mit der Abschaffung des Erstgeburtsrechts erlangten, war die Stärkung
des Erbrechts des überlebenden Ehepartners ein lang andauernder Prozess,
der erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen Abschluss fand.
Hierbei geht es großenteils um die Frage der Gleichstellung von Mann
und Frau. Das Eigentumsrecht begünstigte die Männer. Im Gewohnheitsrecht
(Common Law) kam dies am deutlichsten zum Ausdruck. Dort war festgelegt,
dass die Verfügungsrechte über das Eigentum einer Frau bei ihrer Heirat an
ihren Ehemann übergingen. Das bewegliche Vermögen der Ehefrau wurde dem
Ehemann übertragen und somit auch von ihm weitervererbt. Immobilienvermögen
blieb zwar formell im Eigentum der Ehefrau, die Erträge hieraus gehörten
jedoch dem Ehemann. Die Ehefrau wurde, kurz gesagt, zur femme couverte.
Rechtlicher Hintergrund von alledem war das Prinzip der Eheeinheit (Marital
Unity) im Common Law. 'Vollzieher' dieser Einheit war der Ehemann. 'The
husband and wife are one person in law', lautete das berühmte Diktum von
William Blackstone ([1771]2001, Bd. 1: 339).

Die Reformen zur Stärkung der rechtlichen Stellung des überlebenden Ehepartners
begannen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während eines
Zeitraums von einhundertfünfzig Jahren lässt sich im Eigentums- und im Erbrecht
ein kontinuierlicher Angleichungsprozess der Rechte von Mann und Frau
beobachten. Diese Tendenzen machen eine zunehmende Durchsetzung des
Gleichheitsprinzips deutlich. Außerdem zeigen sie die abnehmende Bedeutung
der dynastischen Vermögensvererbung in der männlichen Blutlinie auf.
Die Erbrechtsreformen, die in die traditionellen Familienbeziehungen eingriffen,
um Gleichheit innerhalb der Familie anzustreben, beschränkten sich jedoch
nicht auf die Gleichstellung von Mann und Frau. Insbesondere in Frankreich,
doch auch in Deutschland sollte das normative Prinzip der Gleichheit
außerdem durch eine Beschränkung der Testierfreiheit durchgesetzt werden. So
wurde in Frankreich die Testierfreiheit während der Revolution komplett abgeschafft,
und selbst heute ist sie durch die Bestimmungen des Code Civil stark
eingeschränkt.