Kapitel 1
Das Gute ist der Feind des Besten.
Das ist einer der Hauptgründe, warum es so wenig wirklich Herausragendes gibt.
Wir haben gute Schulen, aber keine Spitzenschulen. Wir haben auch eine gute Regierung, aber keine Spitzenregierung. Nur wenige Menschen führen ein "Spitzenleben" - weil es so leicht ist, sich mit einem guten Leben zufrieden zu geben. Die meisten Unternehmen werden allein deshalb nie zur Spitze gehören, weil es der Mehrzahl von ihnen gut geht - und genau das ist ihr größtes Problem.
Mit aller Schärfe erkannte ich dieses Problem 1996 beim Abendessen mit einer Gruppe von Wirtschaftsleuten, die über die Leistungsfähigkeit von Organisationen diskutieren wollte. Bill Meehan, der leitende Direktor von McKinsey & Company in San Francisco, neigte sich zu mir hin und sagte beiläufig: "Wissen Sie, Jim, wir mögen Ihr Buch Built to Last. Sie und Ihr Co-Autor haben uns mit Ihrer Untersuchung stark beeindruckt. Leider ist das Buch völlig nutzlos."
Ich war erstaunt und forderte eine Erklärung.
"Die meisten Unternehmen, über die Sie schreiben, gehörten immer schon zur Spitze", sagte er. "Sie mussten sich nie von einem guten in ein Spitzenunternehmen verwandeln. Leute wie David Packard und George Merck sorgten von Anfang an für herausragende Leistungen. Aber wie steht es mit der überwiegenden Zahl jener Unternehmen, die irgendwo auf halbem Weg aufwachen und feststellen, dass sie gut sind, aber nicht spitze?"
Heute weiß ich, dass Meehan mit der Aussage, mein Buch sei "nutzlos", übertrieben hat; im Kern aber war seine Beobachtung richtig: Die meisten echten Spitzenunternehmen waren immer schon spitze. Und die meisten guten Unternehmen bleiben genau das: gut. Meehans Bemerkung erwies sich als unschätzbares Geschenk, denn sie legte den Keim zu einer Fragestellung, die zur Grundlage dieses Buches wurde: "Kann ein gutes Unternehmen zum Spitzenunternehmen werden und wenn ja, wie?" Oder ist das Leiden daran, "nur gut zu sein", unheilbar?
Fünf Jahre nach diesem schicksalhaften Abend können wir mit gutem Gewissen behaupten, dass es die Entwicklung zum Spitzenunternehmen tatsächlich gibt. In der Zwischenzeit haben wir auch eine ganze Menge über die Variablen erfahren, die solchen Transformationen zugrunde liegen. Inspiriert von Bill Meehans Stichelei begab ich mich mit einer Forschergruppe auf eine fünfjährige Expedition in die inneren Abläufe beim Übergang von "gut" zu "spitze".
Einen schnellen Einstieg in das Projekt bietet Chart 1.1 auf Seite 17. Wir ermittelten Unternehmen, die den Sprung von einem guten Ergebnis zu einem Spitzenergebnis schafften und denen es gelang, das neue Niveau mindestens 15 Jahre lang zu halten. Diese Unternehmen verglichen wir mit einer sorgfältig zusammengestellten Kontrollgruppe aus Unternehmen, die den Sprung nicht oder nur vorübergehend schafften, ohne das erreichte Niveau halten zu können. Wir verglichen die beiden Unternehmenstypen, um so die entscheidenden und unterscheidenden Faktoren herauszufiltern.
Die ermittelten Take-off-Unternehmen zeigen erstaunliche Resultate: eine Wertpapierrendite, die die durchschnittliche Entwicklung am Aktienmarkt innerhalb von 15 Jahren nach dem Umschwung um den Faktor 6,9 übertrifft. General Electric hingegen (von vielen als das am besten geführte Unternehmen der USA am Ende des 20. Jahrhunderts eingestuft) übertraf den Marktdurchschnitt zwischen 1985 und 2000 "nur" um das 2,8-fache. Hätte man 1965 einen Dollar in einen Fonds aus Take-off-Unternehmen investiert - eine durchschnittliche Entwicklung bis zum Umschwung vorausgesetzt - und gleichzeitig einen Dollar in einen Standardwerte-Fonds eingezahlt, wäre der Dollar aus dem Take-off-Fonds am 1. Januar 2000 471 Dollar wert gewesen, der aus dem Standardwerte-Fonds 56 Dollar.
Das sind erstaunliche Zahlen, aber noch erstaunlicher sind sie, wenn man berücksichtigt, dass sie von Unternehmen stammen, die zuvor absolut unauffällig waren. Nehmen wir beispielsweise die Drogeriemarktkette Walgreens. Über 40 Jahre war Walgreens ein durchschnittliches Unternehmen, das in etwa die Vorgaben des Marktes erreichte. Und plötzlich, 1975, scheinbar aus dem Nichts: die Explosion! Die Walgreens-Aktie beginnt zu klettern, immer höher und höher. Zwischen dem 31. Dezember 1975 und dem 1. Januar 2000 schlug der bei Walgreens investierte Dollar den Technologiesuperstar Intel fast um das Doppelte, General Electric um das Fünffache, Coca-Cola um das Achtfache und den Aktienmarkt (inklusive des NASDAQ-Höhenflugs 1999) um mehr als das 15-fache.
Wie um alles in der Welt konnte sich ein Unternehmen, das so lange so unauffällig gewesen war, so sehr verwandeln, dass es einige der bestgeführten Unternehmen der Welt überflügelte? Und warum schaffte Walgreens den Sprung, während andere Unternehmen in derselben Branche und mit denselben Möglichkeiten, wie beispielsweise Walgreens Konkurrent Eckerd, es nicht schafften?
In diesem Buch geht es nicht um Walgreens oder die anderen Unternehmen, die wir untersucht haben, sondern um die Frage: Kann ein gutes Unternehmen zu einem Spitzenunternehmen werden und wenn ja, wie? Unsere Suche galt zeitlosen, universellen Antworten, die sich auf jede Art von Organisation anwenden lassen.
Unsere fünfjährige Suche bescherte uns zahlreiche überraschende Erkenntnisse, die zum Teil in Widerspruch zu allgemeinen Auffassungen standen. Ein Ergebnis sticht jedoch besonders heraus: Wir glauben, dass fast jede Organisation ihre Leistung grundlegend verbessern und vielleicht sogar zur Spitzengruppe aufschließen kann, vorausgesetzt, man wendet das von uns entdeckte Ideengerüst gewissenhaft an.