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Dietz

Gerechte Gesundheitsreform?

Ressourcenvergabe in der Medizin aus ethischer Perspektive

Medium: Buch
ISBN: 978-3-593-39511-1
Verlag: Campus
Erscheinungstermin: 06.06.2011
Lieferfrist: bis zu 10 Tage
Die Frage nach einer gerechten und zukunftsfähigen Gestaltung unseres Gesundheitswesens betrifft uns alle existenziell. Alexander Dietz – Ethiker, Theologe und Ökonom – beleuchtet die wichtigsten Begriffe, die in der Diskussion um das Gesundheitswesen eine Rolle spielen, wie medizinische Notwendigkeit, Gerechtigkeit, Lebensqualität, Menschenwürde, Rationalisierung und Rationierung. Er zeigt, warum es sich bei der Frage nach Ressourcenvergabe im Gesundheitswesen um eine ethische Frage handelt, die sich weder rein medizinisch noch rein ökonomisch beantworten lässt.

Produkteigenschaften


  • Artikelnummer: 9783593395111
  • Medium: Buch
  • ISBN: 978-3-593-39511-1
  • Verlag: Campus
  • Erscheinungstermin: 06.06.2011
  • Sprache(n): Deutsch
  • Auflage: 1. Auflage 2011
  • Serie: Kultur der Medizin
  • Produktform: Kartoniert
  • Gewicht: 626 g
  • Seiten: 471
  • Format (B x H): 140 x 213 mm
  • Ausgabetyp: Kein, Unbekannt

Autoren/Hrsg.

Autoren

Dietz, Alexander

Inhalt

1. Einleitung 11
1.1 Problemhinführung 11
1.2 Der mögliche Beitrag theologischer Medizinethik 17
1.3 Das deutsche Gesundheitswesen 26

2. Ethische Grundlagen der Diskussion um Ressourcenallokation
im Gesundheitswesen 33
2.1 Im Blick auf den Menschen 33
2.1.1 Bestimmung des Menschen 33
2.1.2 Menschenwürde 55
2.1.3 Lebensqualität 93
2.2 Im Blick auf die Medizin 125
2.2.1 Aufgabe der Medizin 125
2.2.2 Gesundheit und Krankheit 145
2.2.3 Medizinische Notwendigkeit 179
2.3 Im Blick auf die Politik 198
2.3.1 Aufgabe der Politik 198
2.3.2 Sozialstaat 213
2.3.3 Gerechtigkeit 240
2.4 Im Blick auf die Wirtschaft 282
2.4.1 Aufgabe der Wirtschaft 282
2.4.2 Rationalisierung 305
2.4.3 Rationierung 349

3. Ressourcenvergabe in der Medizin aus ethischer Perspektive - Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse 378
Abkürzungen 385

Abbildungen 387
Literatur 391
Register 464

Allokation bedeutet Verteilung, und die Allokationsdiskussion beschäftigt sich mit den Fragen, wie viele Ressourcen ein Staat für das Gesundheitswesen bereitstellen sollte (obere Ebene der Makroallokation), wie diese Ressourcen auf Teilbereiche der medizinischen Versorgung verteilt werden sollten (untere Ebene der Makroallokation) und wie die Ressourcen in den Teilbereichen auf Patientengruppen (obere Ebene der Mikroallokation) und schließlich auf einzelne Patienten (untere Ebene der Mikroallokation) verteilt werden sollten. Hinter diesen Fragen stehen weitere, zum Beispiel: Wie groß ist das immer wieder beschworene Problem der Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen tatsächlich? Handelt es sich eher um ein Finanzierungsproblem oder ein Ausgabenproblem? Welches Verständnis von Knappheit wird zugrunde gelegt? Sollte die Bewältigung dieses Knappheitsproblems dem Markt überlassen werden? Was würde das für den Sozialstaat bedeuten? Welches Verständnis des Sozialstaats wird zugrunde gelegt? Ist Rationierung tatsächlich unumgänglich? Stellt Rationierung eine Menschenrechtsverletzung dar? Welches Verständnis von Rationierung wird zugrunde gelegt? Welche Leistungen sind medizinisch nützlich, welche sind medizinisch notwendig? Welches Verständnis von Gesundheit und Krankheit wird zugrunde gelegt? Welche Verteilung ist gerecht? Welches Verständnis von Gerechtigkeit wird zugrunde gelegt?
Diese beispielhaft angeführten Fragen machen deutlich, dass es sich bei der Allokationsdiskussion um eine "Debatte über die ethischen Grundlagen des Staates" handelt. Es geht letztlich um die Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben möchten bzw. was unsere "Vorstellung des guten Lebens" ist und dies "setzt die Antwort auf die Frage voraus, wer wir (eigentlich) sind". Peter Dabrock formuliert pointiert, dass deutlich sei, "worum es in den Debatten über das Gesundheitssystem im eigentlichen geht und was auf dem Spiel steht: die Menschlichkeit des Menschen". Derzeit wird die Allokationsdiskussion durch die ökonomische Perspektive einseitig dominiert, doch Ulrich Körtner bemerkt zurecht, dass "die ganze Diskussion zu kurz greift, solange lediglich unter den Schlagworten der Rationalisierung und Rationierung nach der Effizienz, nicht aber nach dem Sinn des Ganzen gefragt wird". In der Tat setzt eine ethisch anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Thema Ressourcenallokation im Gesundheitswesen zunächst eine Klärung der Fragen voraus, welches Verständnis von der Bestimmung des Menschen, der Aufgabe der Medizin, der Aufgabe der Politik und der Aufgabe der Wirtschaft man für angemessen hält, und in welchem Verhältnis diese Aspekte zueinander und zum Gesundheitswesen stehen.
Gesundheitspolitische Fragen sind gegenwärtig in Deutschland von breitem öffentlichen Interesse und werden regelmäßig in Talkshows im Fernsehen diskutiert. Im Folgenden gebe ich Auszüge aus der Diskussion der Sendung "Anne Will - Operation Gesundheitsfonds - höhere Beiträge, weniger Leistungen?", die am 4. Januar 2009 in der ARD zu sehen war, wieder, um typische Defizite der Allokationsdiskussion zu verdeutlichen:

Anne Will (Moderatorin): "Ist der Gesundheitsfonds eine radikale Operation, wie Frau Schmidt gesagt hat, oder ist es eine missglückte Notoperation? Besonders hart trifft es die Rentner."
Rentner (Interview): "Wir zahlen zusammen künftig 30 Euro pro Monat mehr an Krankenkassenbeiträgen, das sind 360 im Jahr, und das wird ja noch nicht das Ende [sein], sondern es wurde von unserer Krankenkasse schon angekündigt, dass der Versicherte noch mal ein Prozent seines Einkommens selber dazu zahlen muss. Letztes Jahr hatten wir an Zuzahlungen 250 Euro noch extra. Wie soll das gehen, wir werden doch alle nicht mehr zum Doktor gehen können?"
Ulla Schmidt (Bundesgesundheitsministerin): "Die Leistungen der Gesetzlichen Krankenkassen sind durch die letzten Reformen noch ausgeweitet worden. Zum Beispiel bauen wir gerade die palliativmedizinische Versorgung aus. In diesem Jahr wollen wir die ambulante Versorgung stärken. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen, die krank sind, eine Behandlung auf der Höhe des medizinischen Fortschritts erhalten, und das Geld muss solidarisch aufgebracht werden."
Jens Spahn (CDU): "Die Erhöhung des Beitragssatzes hat nichts mit dem Gesundheitsfonds zu tun, sondern mit Leistungsausweitungen. Die Leistungsverbesserungen und auch Honorarverbesserungen bei niedergelassenen Ärzten waren von vielen Verbänden gefordert worden, aber die müssen auch bezahlt werden. In einem Land, in dem wir alle gemeinsam älter werden, werden die Ausgaben steigen. Wer etwas anderes verspricht, lügt."
Ulrike Mascher (Sozialverband VdK): "Aber die Rentner werden im Gegensatz zu den Arbeitnehmern nicht entlastet. Und warum beziehen wir nicht die Privatversicherten in den Risikostrukturausgleich ein? Dass es einen Unterschied gibt zwischen Privat- und Kassenpatienten, dass ist das, was die Leute in dieser Gesellschaft aufregt und wo sie merken: Das ist ungerecht."
Jens Spahn (CDU): "Sie lösen das Problem, dass wir alle älter werden, nicht dadurch, dass sie die Private Krankenversicherung abschaffen. Wir müssen uns eher Gedanken über die Frage der Kapitaldeckung machen."
Anne Will (Moderatorin): "Verschärft denn nun der Gesundheitsfonds den Trend zur Zwei-Klassen-Medizin?"
Arzt (Interview): "Der Fonds wird diese Tendenz verschärfen, weil ein großer Geldmangel im Fonds besteht."
Ulla Schmidt (Bundesgesundheitsministerin): "In diesem Jahr stehen 11 Milliarden mehr zur Behandlung der gesetzlich Krankenversicherten zur Verfügung. Das System ist nicht unterfinanziert. Es ist ein Problem, dass laufend etwas behauptet wird, und jeder glaubt, Experte für das Gesundheitssystem zu sein. Aber es entspricht oft nicht der Realität. Es gibt Unterschiede, deswegen bin ich für die Bürgerversicherung, weil sie mehr Gerechtigkeit schaffen würde."
Ingo Kailuweit (Kaufmännische Krankenkasse): "Das Gesundheitssystem wird nicht dadurch besser, das die Beschäftigten mehr Lohn kriegen. Der Gesundheitsfonds löst keines unserer Probleme. Er tut nichts gegen die Kostenexplosion."
Anne Will (Moderatorin): "Werden die Menschen sich darauf einstellen müssen, dass bestimmte Leistungen nicht mehr gewährt werden? Setzt die Reform falsche Anreize, weil jetzt nur noch ein chronisch kranker Versicherter ein guter Versicherter ist?"
Ingo Kailuweit (Kaufmännische Krankenkasse): "Jetzt ist es beim morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich so, dass der Arzt, das Krankenhaus und die Krankenkasse mehr Geld bekommen, wenn der Patient kränker wird. Wer soll jetzt darauf achten, dass wir nicht ein Volk von Kranken werden?"
Anne Will (Moderatorin): "Ist nicht jedes Gesetz, auch wenn es gut gedacht ist, immer missbrauchsanfällig, wenn, Frau Schmidt nennt es kriminell, andere nennen es betriebswirtschaftlich gedacht wird?"
Ulrike Mascher (Sozialverband VdK): "Es ist ein System, in dem Patienten, die sich nicht so gut durchsetzen können, notwendige Leistungen nicht erhalten. Zum Beispiel wird die alte Rentnerin abgewimmelt, wenn sie den Arzt überreden will, eine medizinische Begründung für eine Leistung zu schreiben".
Die Diskutanten sprechen gleichzeitig über verschiedene Themen - zum Beispiel Bewertung der letzten Gesundheitsreform, Situation der Rentner, Zuzahlungen, Beitragssätze, Ärztehonorare, demographische Entwicklung, neue Versorgungsschwerpunkte, Risikostrukturausgleich, Abschaffung der Privaten Krankenversicherung, Kapitaldeckung, Notwendigkeit von Rationierung, Anreize -, verwenden dabei ungeklärte Begriffe (zum Beispiel Gerechtigkeit, Krankheit, Solidarität, "Zwei-Klassen-Medizin", Bürgerversicherung, Kostenexplosion, notwendige Leistungen) und setzen unterschiedliche Verständnisse grundlegender Gegenstände voraus (zum Beispiel Sozialstaat, Effizienz, Folgen der Ökonomisierung für die Rolle des Arztes und die Arzt-Patienten-Beziehung).
Es wird an dieser Stelle meines Erachtens ein für die gesamte Allokationsdiskussion symptomatischer Bedarf in vierfacher Hinsicht deutlich: erstens ein Bedarf an Informationen über die komplexe Organisation des Gesundheitswesens (insbesondere Finanzierungsfragen, Allokationsmechanismen, rechtliche Grundlagen, Akteure und deren Interessen etc.) sowie über von Diskussionsteilnehmern verwendete Daten und deren verschiedene Deutungsmöglichkeiten (demographische Entwicklung, Rationalisierungspotenzial, internationale Kennzahlen etc.), zweitens ein Bedarf an Differenzierung und Redlichkeit (anstelle von strategischem aneinander Vorbeireden und irreführender Begriffspolitik), drittens ein Bedarf an Versachlichung, insbesondere durch eine Klärung der Verwendungsweise diskussionsleitender Grundbegriffe und ihrer ethischen Implikationen (Gerechtigkeit, Sozialstaat, Gesundheit und Krankheit, medizinische Notwendigkeit, Rationalisierung und Rationierung, Menschenwürde, Lebensqualität, meist wird - wenn überhaupt - von diesen Begriffen nur der Gerechtigkeitsbegriff näher beleuchtet) und viertens ein Bedarf an einer Verhältnisbestimmung medizinischer, politisch-rechtlicher, ethischer und ökonomischer Gesichtspunkte und Sichtweisen.