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Draude

Die Vielfalt des Regierens

Eine Governance-Konzeption jenseits des Eurozentrismus

Medium: Buch
ISBN: 978-3-593-39776-4
Verlag: Campus Verlag GmbH
Erscheinungstermin: 08.11.2012
Lieferfrist: bis zu 10 Tage
Die De- und Re-Konstruktion des Governance-Konzepts ist ein notwendiger Schritt, um die blinden Flecken einer eurozentristischen Perspektive zu überwinden. Anke Draude eröffnet der empirischen Sozialforschung mit ihrer Studie neue Perspektiven auf Politik in nicht-westlichen Räumen und bietet einen theoretisch-konzeptionellen Beitrag zur Anerkennung der soziopolitischen Vielfalt in der Weltgesellschaft.

Produkteigenschaften


  • Artikelnummer: 9783593397764
  • Medium: Buch
  • ISBN: 978-3-593-39776-4
  • Verlag: Campus Verlag GmbH
  • Erscheinungstermin: 08.11.2012
  • Sprache(n): Deutsch
  • Auflage: 1. Auflage 2012
  • Produktform: Kartoniert
  • Gewicht: 389 g
  • Seiten: 309
  • Format (B x H x T): 144 x 220 x 20 mm
  • Ausgabetyp: Kein, Unbekannt

Autoren/Hrsg.

Autoren

Draude, Anke

Inhalt

Vorbemerkung 9

Einleitung 11

I. Eurozentrismus

1. Staatszerfall 25
1.1 Schwache, zerfallende und kollabierte Staaten 26
1.2 Wissenschaftliche Gratwanderungen 36

2. Neopatrimonialismus 55
2.1 Personalisierte Herrschaft und moderne Staatlichkeit. 56
2.2 Modernisierungstheoretische Stolpersteine 81
3. Zwischenbilanz 100

II. Re-Konzeptualisierung

4. Governance - Dekonstruktion 107
4.1 Kontextualisierung konzeptioneller Voraussetzungen 109
4.2 Kontextuelle Spannungen beim Konzepttransfer 118

5. Governance - Rekonstruktion 129
5.1 Definition 130
5.2 Methode 138
5.3 Heuristik 143

6. Zwischenbilanz 156

III. Kontingenz

7. Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit 163
7.1 Governance-Leistungen 164
7.2 Governance-Akteure 176
7.3 Governance-Institutionen 188
7.4 Governance-Räume 210

8. Kulturperspektiven 228
8.1 "Cultural Turn" 230
8.2 Übersetzung und Aneignung 235
8.3 Von der Selbstbeschreibung zur Governance-Kultur 245
8.4 Governance-Kulturen 260

9. Zwischenbilanz 267

Schlussbilanz 273

Literatur 281

Die Herausforderungen des frühneuzeitlichen Regierens - pax et iustitia et bonum commune - stellen sich im 21. Jahrhundert auf der Ebene der Weltgesellschaft neu. Terror und Gewalt, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit, Pandemien und Umweltkatastrophen haben in ihren Auswirkungen eine globale Dimension erreicht, die sich den territorial begrenzten Möglichkeiten nationalstaatlicher "Steuerung" entziehen. Fortschreitende Modernisierungsprozesse - insbesondere neue Technologien, wirtschaftliche Verflechtung und steigende Mobilitätschancen - führen zur Auflösung räumlicher Problembezüge. Heute wirken sich regionale Katastrophen in Afghanistan, Syrien oder Japan unmittelbar auf weit entfernte Orte aus. Neben den einschneidenden, doch eher seltenen Terrorakten sorgt eine nie gekannte Flut von Bildern und Berichten für eine neue Sichtbarkeit des Schreckens, die auch in den vermeintlich sicheren Häfen der westlichen Moderne zum Handeln zwingt.

Bei dem Versuch, die zerstörerischen Kräfte unserer Zeit zu bändigen, konzentriert sich die Weltpolitik mehr und mehr auf Räume begrenzter Staatlichkeit - Räume, in denen es Staaten an politischer Durchsetzungsfähigkeit mangelt. In den weltgesellschaftlichen Zentren der Armut, der Ungerechtigkeit und der Gewalt will man insbesondere die globale soziale Frage eindämmen, die im Westen nach 9/11 als sicherheitspolitische Bedrohung eingeschätzt wird. Der neue Link zwischen Sicherheits- und Entwicklungspolitik hat weitreichende Konsequenzen: Interventionen in Konfliktregionen enden nicht mehr mit der militärischen Stabilisierung von Entwicklungsstaaten. Stattdessen rückt Entwicklungszusammenarbeit aus der karitativen Ecke in den Relevanzbereich der Weltpolitik. Hier geht es um die Befriedung gewaltsamer Konflikte, um die Etablierung einer rule of law und um die Förderung menschlicher Entwicklung. Das alles soll dem internationalen Terrorismus und partikularistischen Fundamentalismen den Nährboden entziehen.
Politik und Wissenschaft sind auf solche sozialpolitischen Experimente in Räumen begrenzter Staatlichkeit denkbar schlecht vorbereitet. Zu sehr bauen sie bei der Erfassung und Lösung sozialer Problemlagen auf das idealisierte Organisationsprinzip Staat, auf das in Räumen begrenzter Staatlichkeit per definitionem kaum Verlass ist. Mit Blick auf das Engagement der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan oder Somalia, im Sudan oder in der Demokratischen Republik Kongo wird immer deutlicher, dass herkömmliche Konzepte und Lösungsansätze in Räumen begrenzter Staatlichkeit nicht greifen. Andere Realitäten fordern andere Sichtweisen. Hier setzt die vorliegende Arbeit an, wenn sie eine perspektivische Erweiterung vom Staat hin zur Vielfalt des Regierens fordert und diese auf der theoretisch-konzeptionellen Ebene vorbereitet.

Dass die anderen Sichtweisen in diese Richtung führen könnten, deutet sich in der sozialwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre an. Bei dem Versuch, die Möglichkeitsspielräume für Interventionen militärischer und entwicklungspolitischer Art auszuloten, stoßen RegionalwissenschaftlerInnen immer wieder auf die eigentümliche Vielfalt des Regierens in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Es scheint hier neben den Entwicklungsstaaten noch eine ganze Reihe politisch relevanter Akteure zu geben: etwa internationale Organisationen, transnationale Unternehmen, religiöse Führer, (I)NGOs, lokale Netzwerke und Potentaten. Die vielfältigen Akteure prägen das politische Geschehen in Räumen begrenzter Staatlichkeit mit ihren unterschiedlichen Koordinationsformen, räumlichen Reichweiten und kulturellen Sinnbezügen, wobei die unterschiedlichen Ebenen der Politik zuweilen unmittelbar zusammenwirken. Die Wissenschaft ist zunehmend fasziniert von dieser "neuen" Vielfalt. Ihre Entdeckung hat jedoch zunächst etwas Irritierendes, Verunsicherndes. Die Staatszerfall-Rhetorik ist Ausdruck allgemeiner Ratlosigkeit und Verlustängste angesichts der "neuen Kriege" (vgl. Kaldor 1999). Demgegenüber konzentrieren sich die Forschungsansätze der letzten Jahre merklich auf funktionale Aspekte des Regierens in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Sie versuchen, die soziopolitische Heterogenität jenseits und unterhalb des Staates auf den Begriff zu bringen: etwa als "Parasouveränität" (Trotha 2005: 33) und "Quasi-Staatlichkeit" (Hahn 2006), als "outsourced statehood" (Zürcher 2007: 12) oder "shared sovereignty" (Krasner 2004: 108). Die Schlagworte bezeichnen eine international sichtbare Ermächtigung der Gesellschaft beziehungsweise der internationalen Gemeinschaft gegenüber dem Entwicklungsstaat, die mehr oder minder problematisch eingeschätzt wird, je nachdem, ob es sich um ein ignorierendes Nebeneinander, um kooperative Ergänzung oder konfliktträchtige Konkurrenz handelt.

Den folgenden Überlegungen liegt die Prämisse zugrunde, dass die Wahrnehmung der soziopolitischen Heterogenität in Räumen begrenzter Staatlichkeit bis dato weitgehend dem Zufall überlassen wird. Einschlägige Konzepte nehmen nur einen Ausschnitt der Vielfalt ins Visier, nämlich den, der den Staat direkt betrifft oder zumindest nachhaltig irritiert. Regionalexpertise ergänzt zufällig, was die staatszentrierten Konzeptionen nicht zu fassen vermochten - und diese zufälligen Beobachtungen werden dann als die spannendsten Irritationen diskutiert. Das ist der Problemhorizont, in dem die vorliegende Arbeit steht: Es wird Zeit, dass das "Regieren ohne Staat" (Risse/Lehmkuhl 2007) neben staatlichen und kooperativen Formen des Regierens systematisch in die sozialwissenschaftliche Forschung einbezogen wird, damit die weltpolitischen Herausforderungen in Räumen begrenzter Staatlichkeit bestmöglich bewältigt werden können. Dazu müssen anstelle von Entwicklungsstaaten die politischen Herausforderungen selbst als Dreh- und Angelpunkt der Weltpolitik betrachtet werden. Dann erscheint mit Blick auf Sicherheit, soziale Ordnung und Gemeinwohl das Verschiedene als ein Zusammenhang: die Vielfalt des Regierens.

Fragestellung und zentrale Thesen

Dieses Buch nimmt sich vor, den Perspektivenwechsel vom Staat und staatlicher "Steuerung" zur Vielfalt des Regierens theoretisch-konzeptionell vorzubereiten. Die Frage, die dabei im Mittelpunkt steht, lautet: Wie lässt sich die Vielfalt des Regierens in Räumen begrenzter Staatlichkeit umfassend und systematisch erschließen? Mit dieser Frage zielt das Buch auf eine Konzeption des Regierens jenseits des Eurozentrismus, die raumzeitlich kontingente Formen des Regierens empirisch zugänglich macht. Solch eine Konzeption ist kein Selbstzweck. Sie versteht sich vielmehr als sozialwissenschaftliches Handwerkszeug, das nicht zuletzt dazu beiträgt, weltpolitische Handlungsoptionen und lokale Entwicklungspotenziale realistisch einzuschätzen und optimal auszunutzen.

Das Hauptproblem, dem sich die vorliegende Arbeit stellt, ist der Eurozentrismus (Chakrabarty 2000; Conrad/Randeria 2002; Nederveen Pieterse 2001). Dieses Schlagwort verweist auf eine fundamentale Kritik an der teleologischen Geschichts- beziehungsweise Entwicklungskonzeption, die der bemerkenswerten Selbstgewissheit und Selbstbezogenheit der westlichen Moderne zugrunde liegt. Der Vorwurf richtet (sich an) alle, die implizit oder explizit davon ausgehen, die Geschichte Europas werde andernorts nachgeholt. In den Sozialwissenschaften hat diese Überhöhung der westlichen Moderne Tradition. Sie fußt, so eine These dieser Arbeit, auf modernisierungstheoretischen Denkmustern. Gemeint ist damit ein zusammenhängendes Set an ontologischen Grundannahmen, das im Rahmen der Selbstbeschreibung der europäischen Moderne konstruiert wurde und auf dem das moderne geistes- und sozialwissenschaftliche Denken aufbaut. Es geht hier zum Beispiel um die aneinander gekoppelten Unterscheidungen von Moderne und Tradition, Staat und Gesellschaft, öffentlicher und privater Sphäre, die in unserem Kontext vor allem staatszentrierte Sichtweisen auf Regieren fördern. Modernisierungstheoretisch sind diese Denkmuster insofern, als die Modernisierungstheorie der 1950er und 60er Jahre für ihre Herauslösung aus dem spezifisch europäischen Kontext gesorgt hat. Mit der Übertragung auf "Entwicklungsländer" wurden die ontologischen Annahmen universalisiert - und die Idee vom eindimensionalen Entwicklungspfad zwischen "Tradition" und "Moderne" entstand (Knöbl 2001; Pollack 2004). Heute ist die Modernisierungstheorie schon lange tot (Alexander 1994; Menzel 1992), und die Eurozentrismus-Kritik beziehungsweise der Kontingenzgedanke beherrscht die Lebenden (Knöbl 2007). Dennoch halten die modernisierungstheoretischen Denkmuster stand. Sie prägen nach wie vor die sozialwissenschaftliche Herangehensweise an nicht-westliche Empirien und sorgen hier für unbefriedigende Negativbeschreibungen und problematische Fehleinschätzungen. Modernisierungstheoretische Denkmuster sind die Anleitung für eurozentristische Verzerrungen. Solange sie nicht überwunden werden, wird Europas kontingente Geschichte immer wieder, zumindest implizit, zur Vergleichsfolie stilisiert, vor der nicht-westliche beziehungsweise nicht-moderne Entwicklungen dann nur noch, wenn überhaupt, als Entwicklungsdefizite wahrgenommen werden.

Vor diesem Hintergrund versteht sich die Re-Konzeptualisierung im Zentrum dieses Buches: Mit dem Ziel, die Vielfalt des Regierens umfassend und systematisch zu erschließen, ist der Anspruch verbunden, nicht bei der Kritik eurozentristischer Konzeptionen stehen zu bleiben. Es bedarf anderer Sichtweisen, die nicht-westlichen Wirklichkeiten angemessen sind. Die Suche nach Wegen aus dem Eurozentrismus hinaus zeigt schnell, dass eine holistische Perspektive dabei eher hinderlich ist. So sei mit Blick auf die Postkolonialismus-Literatur die Vermutung erlaubt, dass diese in der Eurozentrismus-Kritik stecken bleibt, weil ihr eigener, universeller Anspruch das Kritisierte so mächtig erscheinen lässt (vgl. z.B. Bhabha 1994). Mit der Re-Konzeptualisierung wird eine alternative Herangehensweise vorgeschlagen, die vor allem konstruktiv und pragmatisch sein soll. Im Mittelpunkt steht nicht die gesamte Denktradition der modernen Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern ein einzelnes sozialwissenschaftliches Konzept, das mit Blick auf einen bestimmten Anwendungskontext de- und rekonstruiert wird. Eine Re-Konzeptualisierung ist also der Versuch, den Eurozentrismus nicht ein für alle Mal, sondern Stück für Stück zu überwinden. Dabei fließen theoretische Kritik und empirische Irritationen in konzeptuelle Innovationen zusammen. Modernisierungstheoretische Denkmuster werden entkoppelt, so dass etwa das Öffentliche nicht mehr notwendig mit dem Staat assoziiert wird; sie werden ersetzt durch andere Unterscheidungen; und sie werden einer methodischen Kontrolle unterworfen, so dass die Blindstellen der Beobachtung je nach Erkenntnisinteresse platziert werden können. Alles in allem geht es darum, die Wurzeln des Eurozentrismus auf einem überschaubaren Forschungsfeld mit Bedacht auszureißen, so dass eine andere Sichtweise erwachsen kann.

Über die anderen Sichtweisen eröffnen sich, Schritt für Schritt, die Kontingenzen der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft. Jenseits des Eurozentrismus stehen alternative Wirklichkeiten und Möglichkeiten - lokale Entwicklungspfade, tendenzen und -potenziale - nicht nur neben der westlichen Moderne. Das Bild der Moderne wird in sich komplexer, vielschichtiger; ihre Grenzen öffnen sich, und es zeigen sich Verflechtungen mit dem Nicht-Modernen, Nicht-Westlichen. So werden die reduktionistischen westlich-modernen Vorstellungen vom Denk- und Machbaren schrittweise korrigiert beziehungsweise erweitert und in normativer und handlungspraktischer Hinsicht relativiert (Eisenstadt 2000; Knöbl 2007; Randeria 1999; Werner/Zimmermann 2002). Das vorliegende Buch deutet an, welche Möglichkeiten hieraus für eine sozialwissenschaftliche Erforschung des Regierens in Räumen begrenzter Staatlichkeit erwachsen: Die empirische Sozialforschung kann jenseits des Eurozentrismus Landkarten des Regierens zeichnen, die lokalen Wirklichkeiten angemessen sind. Es wird zu überlegen sein, wie die resultierende Fülle an Datenmaterial in Theoriebildung beziehungsweise Handlungsempfehlungen einbezogen werden kann. Dennoch verspricht die Kontingenzperspektive jenseits des Eurozentrismus, dass auf Basis einer systematischen und umfassenden Erfassung des Regierens plausible Erklärungen und machbare Handlungsoptionen erarbeitet werden können, die über modernisierungstheoretisch inspirierte Nachahmungen der westlichen Moderne hinausführen.