„Klimawandel, Menschenrechte und Unternehmensführung – was haben diese drei Themen mit dem Kartellrecht zu tun?“, mögen sich Juristinnen und Juristen fragen, die sich noch nicht mit dem Thema befasst haben. Die Antwort: eine Menge. ESG-Faktoren beeinflussen zunehmend Entscheidungen von Kartellbehörden und Unternehmen. Prof. Dr. Daniel Graewe Nachhaltigkeitserwägungen spielen bei kartellrechtlichen Fragestellungen nämlich eine wichtige Rolle. Investitionen in nachhaltiges Wirtschaften können beträchtlich sein. Unternehmen fragen sich, ob sie diese Investitionen alleine oder in Kooperation mit anderen Unternehmen angehen sollen. Solche Kooperationen können schnell wettbewerbsrelevant werden und damit dem Kartellrecht unterliegen. Diese können Mindeststandards für Produkte, gemeinsame Zertifizierung von Lieferanten oder die Entwicklung nachhaltiger Technologien betreffen. Sie werden von Kartellbehörden geprüft, sind aber nicht per se zulässig. Effizienzen müssen im Verhältnis zu wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen überwiegen. Leitlinien der Europäischen Kommission sind angekündigt, bisher entscheiden die Behörden jedoch im Einzelfall. Unternehmen werden aufgefordert, Kooperationen vorzustellen und abzustimmen. Das deutsche Kartellrecht steht also vor einer Herausforderung: Wie lassen sich traditionelle Wettbewerbsvorgaben mit den Anforderungen der Nachhaltigkeit und sozialen Verantwortung vereinbaren? Die Integration von ESG-Kriterien in die kartellrechtliche Bewertung ist eine Gratwanderung zwischen dem Schutz des Wettbewerbs und der Förderung nachhaltiger Geschäftspraktiken. Und mit der erneuten Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) wird das Bundeskartellamt noch mehr Befugnisse und damit Macht bekommen, in den Markt einzugreifen. Nehmen wir ein Beispiel: Fusionen und Übernahmen, die früher primär unter dem Aspekt der Marktbeherrschung geprüft wurden, werden nun auch auf ihre Umwelt- und Sozialverträglichkeit hin bewertet. Ein Zusammenschluss, der zu erheblichen Umweltschäden führen könnte, wird strenger geprüft, selbst wenn er aus rein ökonomischer Sicht unproblematisch wäre. Dies zeigt, dass ESG-Faktoren nicht nur als „nice-to-have“, sondern als essenzielle Kriterien betrachtet werden. Kritiker argumentieren, dass die Integration von ESG-Faktoren das Kartellrecht verwässert und die Rechtsunsicherheit erhöht. Wie soll ein Unternehmen planen, wenn es nicht weiß, welche Kriterien in Zukunft entscheidend sein werden? Hier sind die Gerichte gefragt, klare Leitlinien zu entwickeln und die Balance zwischen Wettbewerbsschutz und nachhaltiger Entwicklung zu finden. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Entwicklung fortsetzt. Doch eines ist sicher: ESG-Faktoren haben das Potenzial, das deutsche Kartellrecht nachhaltig zu verändern, wie unser Titelthema ab Seite 28 eindrucksvoll beweist.
Produkteigenschaften
- Medium: eBook
- Verlag: Fachmedien Otto Schmidt KG
- Erscheinungstermin: 26.06.2024
- Sprache(n): Deutsch
- Ausgabetyp: PDF