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Etzemüller

Biographien

Lesen - erforschen - erzählen

Medium: Buch
ISBN: 978-3-593-39741-2
Verlag: Campus Verlag GmbH
Erscheinungstermin: 10.09.2012
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Biographien werden von Historikern erforscht, geschrieben oder als Quellen benutzt. Thomas Etzemüller unternimmt einen Streifzug durch die historische, soziologische und literaturwissenschaftliche Biographieforschung. Dabei macht er deutlich, dass die Lebensgeschichte eines Menschen ein komplexes Konstrukt ist. Hinzu kommt ein 'biographisches Paradox': Philosophen und Soziologen beschreiben den Menschen als fragmentiertes Wesen, das Genre der Biographie aber erfordert die narrative Einheit eines Lebenslaufs von der Geburt bis zum Tod. Wie Historiker mit diesem Widerspruch umgehen können, ist ein zentrales Thema dieser Einführung.

Produkteigenschaften


  • Artikelnummer: 9783593397412
  • Medium: Buch
  • ISBN: 978-3-593-39741-2
  • Verlag: Campus Verlag GmbH
  • Erscheinungstermin: 10.09.2012
  • Sprache(n): Deutsch
  • Auflage: 1. Auflage 2012
  • Serie: Historische Einführungen
  • Produktform: Kartoniert
  • Gewicht: 263 g
  • Seiten: 195
  • Format (B x H x T): 136 x 205 x 17 mm
  • Ausgabetyp: Kein, Unbekannt

Autoren/Hrsg.

Autoren

Etzemüller, Thomas

Thomas Etzemüller, Dr. phil., ist außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Oldenburg.

Inhalt

1. Einleitung. 7
1.1. Ein überraschend komplexes Genre. 7
1.2. Die Popularität der Biographie. 10
1.3. Was ist eine Biographie?. 16

2. Sechs Beispiele. 25
2.1. Julia Scialpi: Der Kulturhistoriker Richard Benz (2010). 25
2.2. Alain Corbin: Auf den Spuren eines Unbekannten (1999). 28
2.3. Peter Gathmann/Martina Paul: Narziss Goebbels (2009). 32
2.4. Wolfgang Weber: Priester der Clio (1984). 35
2.5. Yvonne Hirdman: Alva Myrdal (2008). 39
2.6. Alain Boureau: Kantorowicz (1992). 42

3. 'Biographiegeneratoren'. 48
3.1. Das Selbst. 49
3.2. Der Lebenslauf. 55
3.3. Ego-Dokumente. 62
3.4. Die 'Sonde'. 73

4. Die Performanz der Quellen. 80
4.1. Quellen lesen. 80
4.2. Nachlässe. 84
4.3. Selbstzeugnisse. 91
4.4. Bilder. 97

5. Konstruktionen der Biographie. 102
5.1. Perspektiven. 106
5.2. Auslassungen. 111
5.3. Narrative. 117
5.4. Paratexte. 126

6. Biographien und die Ordnung der Gesellschaft. 132
6.1. Funktionen. 132
6.2. Effekte. 135
6.3. Biographien als Quellen lesen. 149

7. Das biographische Paradox. 153
7.1. Anti-Biographien. 153
7.2. Fragmentierung des Subjekts,
Einheit des Genres?. 159

8. Schluss: Konsequenzen für Biographen. 170

Dank. 176
Literatur. 177
Register. 193

1. Einleitung

1.1. Ein überraschend komplexes Genre

Es gibt eine eigene Wissenschaft, die sich mit Biographien beschäftigt,
die Biographieforschung. Sie ist mittlerweile derart
ausdifferenziert, dass es unmöglich ist, einen auch nur halbwegs
umfassenden Überblick über diesen Forschungszweig zu geben.
Um das zu begreifen, reicht ein Blick in das Inhaltsverzeichnis
einer der jüngsten Publikationen zu diesem Thema, das 2009
erschienene Handbuch Biographie (Klein 2009). Auf knapp 500
zweispaltigen Seiten werden 59 Themenfelder in knappen Artikeln
skizziert, etwa die Begriffsbestimmung, die Frage, ob die
Biographie eine Gattung sei, das Problem der Fiktionalität, die
Biographiewürdigkeit oder gar Rechtsfragen der biographischen
Arbeit. Das Handbuch macht deutlich, dass sich Biographien in
der Antike, im Mittelalter oder der Neuzeit signifikant unterscheiden,
dass es unterschiedliche nationale Traditionen biographischen
Schreibens gibt, dass die wissenschaftlichen Disziplinen
ihre eigenen biographischen Methoden und Fragestellungen entwickelt
haben, dass Institutionen ihre ganz eigentümlichen biographischen
Texte generieren oder dass schließlich biographisches
Erzählen in Medien, Kunst, Alltag, Wissenschaft oder Literatur
unterschiedliche Formen annimmt und verschiedenen Zwecken
dient. Spätestens nach der Lektüre dieses Standardwerkes macht
es keinen Sinn mehr, von der Biographie zu sprechen. Die Biographie
gibt es nicht – doch ist sie ein jahrhundertealtes Genre, das
sich hinreichend scharf gegen andere Textgattungen abgrenzen
lässt. Und dieses Genre zeichnet sich durch Eigentümlichkeiten
und bestimmte Probleme aus. Ich werde mit dieser Einführung
nicht versuchen, das Handbuch Biographie (und die übrige Forschungsliteratur)
zusammenzufassen oder gar zu ersetzen. Vielmehr
werde ich aus der Perspektive des Historikers und gestützt
auf die jüngere Biographieforschung einen Einblick in die Vielfalt
und Charakteristika des Genres geben.

Ich selber habe nie eine Biographie geschrieben. Aber ich habe
in mehreren Forschungsprojekten die biographische Methode genutzt,
sei es, um wissenschaftssoziologisch und mikrohistorisch,
wie in einer Laborstudie, den Arbeitsprozess von Historikern zu
beschreiben, sei es, um das social engineering im europäischen
20. Jahrhundert zu untersuchen. Der biographische Zugriff dient
mir als 'Sonde', um das Funktionieren der Gesellschaft zu verstehen.
Dabei ist mir immer deutlicher geworden, dass Biographien
erstaunlich komplexe Textformen sein können. Sie informieren
nicht einfach möglichst vollständig und wahrhaftig über
das Leben einer Person – auch wenn das viele Biographen und
Leser glauben mögen –, sondern sie werden durch ihre Autoren
und deren Leser gestaltet. Sie basieren zwar auf Quellen, können
Historikern aber selbst als Quelle dienen. Sie sollen nicht immer
die Neugierde von Lesern befriedigen, sondern oft nur persönlichen
oder administrativen Zwecken dienen. Sie beschreiben nicht
allein einen Ausschnitt der Welt, sondern können durchaus eine
prägende Wirkung auf die Welt ausüben. Außerdem vermögen sie
es, allzu einfache Vorstellungen von der Realität infrage zu stellen.
In dieser Einleitung umreiße ich den Gegenstand und seine
fortdauernde Attraktivität und nehme eine provisorische Begriffsklärung
vor. Dann soll die Problematik in sechs Kapiteln aufgefächert
werden. In Kapitel 2 werden sechs Biographien beispielhaft
vorgestellt, die narrativ unterschiedlich aufgebaut sind und
den Lesern ihren Gegenstand auf divergierende Weise und mit
unterschiedlichen Absichten präsentieren. Kapitel 3 behandelt die
Frage, welche gesellschaftlichen Institutionen als 'Biographiegeneratoren
' wirken und wie die von ihnen produzierten biographischen
Texte mit ihren Objekten, den Menschen, umgehen. Im
Mittelpunkt werden der Unterschied zwischen 'Lebenslauf' und
'Biographie' sowie Subjektivierungsprozesse stehen. In Kapitel 4
wird es dann um die 'Performanz' der Quellenproduktion gehen,
durch die Lebensläufe in Biographien transformiert werden. Die
Quellen werden nicht einfach in der Realität vorgefunden, sondern,
beispielsweise im Falle der Nachlassbildung, von Zeitzeugeninterviews,
Bildern oder Ego-Dokumenten, in sozialen Prozessen
produziert; die Art ihrer Entstehung hat Einfluss darauf,
wie eine Biographie geschrieben wird. Im Anschluss daran führt
Kapitel 5 aus, warum man die durchaus verbreitete Annahme aufgeben
sollte, man müsse nur Quellen auswerten, Fakten erheben
und könne dann das Leben eines Menschen nachzeichnen. Auch
biographische Texte werden konstruiert, und zwar durch biographische
Modelle und Traditionen, spezifische Narrative sowie
Leerstellen. Es wird deutlich werden, dass weder Leben sich einfach
vollziehen noch Texte diese Leben bloß abbilden, dass vielmehr
die Genese eines Subjekts sich in Leben und Text parallel
vollzieht. Zwischen Lebenslauf und Biographie besteht ein zirkulärer
Konnex. Kapitel 6 spürt deshalb den Wirkungen nach,
die Biographien auf die soziale Ordnung der Gesellschaft haben
können. Über den Unterhaltungswert hinaus haben sie beispielsweise
das Potenzial, Hierarchien und Geschlechterverhältnisse
festzuschreiben. Damit ist zugleich ein zentrales Problem der
Biographie berührt, das in Kapitel 7 schließlich untersucht wird,
nämlich das der Einheit eines Genres und der Differenz ihres
Objektes: Wie passen eine Textform, die auf die unhinterfragbare
Einheit eines Individuums setzen muss, und aktuelle Theorieansätze,
die gerade von einer weitgehenden Fragmentierung
aller Individuen ausgehen, zusammen? Wenn Subjektivität und
Körper im Extremfall künftig aus frei wählbaren Versatzstücken
und gar technischen Ersatzteilen bestehen sollten, wäre das nicht
das Ende eines Genres, das seit dem 18. Jahrhundert prinzipiell
darauf angewiesen ist, kohärente Lebenswege von Individuen
nachzuzeichnen, die von der Geburt bis zum Tod psychisch und
physisch eine Einheit bilden? Lässt sich eine mögliche Fragmentierung
des Menschen durch ein auf die Konstruktion von Kohärenz
angelegtes Medium erfassen?