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Hollstein / Jung / Knöbl

Handlung und Erfahrung

Medium: Buch
ISBN: 978-3-593-39405-3
Verlag: Campus Verlag GmbH
Erscheinungstermin: 09.05.2011
Lieferfrist: bis zu 10 Tage
Bei der Herausbildung des modernen sozialtheoretischen Denkens haben zwei Theorieströmungen eine zentrale Rolle gespielt: der amerikanische Pragmatismus und die deutsche Tradition des Historismus. Eine Zusammenführung der beiden damals unverbundenen Strömungen, so die These des Bandes, wäre historisch höchst fruchtbar gewesen. Die Autoren zeigen, wie eine vergleichende Bezugnahme noch heute revitalisierend auf die aktuelle Sozialtheorie und die empirischen Forschungsprogramme des Sozialen wirkt.

Produkteigenschaften


  • Artikelnummer: 9783593394053
  • Medium: Buch
  • ISBN: 978-3-593-39405-3
  • Verlag: Campus Verlag GmbH
  • Erscheinungstermin: 09.05.2011
  • Sprache(n): Deutsch
  • Auflage: 1. Auflage 2011
  • Produktform: Kartoniert
  • Gewicht: 464 g
  • Seiten: 381
  • Format (B x H): 140 x 213 mm
  • Ausgabetyp: Kein, Unbekannt

Autoren/Hrsg.

Herausgeber

Hollstein, Bettina

Jung, Matthias

Knöbl, Wolfgang

Weitere Mitwirkende

Beckert, Jens

Bernstein, Richard

Brugger, Winfried

Camic, Charles

Casanova, José

Honneth, Axel

Hollstein, Bettina

Jaeger, Friedrich

Jung, Matthias

Kippenberg, Hans G.

Knöbl, Wolfgang

Krüger, Hans-Peter

Rehberg, Karl-Siegbert

Schubert, Hans-Joachim

Wittrock, Björn

Inhalt

Vorwort 9

Einleitung
Bettina Hollstein, Matthias Jung, Wolfgang Knöbl 11

I. Das Erbe von Pragmatismus und Historismus:

Zentrale Probleme heutiger Sozialtheorie

Verkörperte Intentionalität - Zur Anthropologie des Handelns
Matthias Jung 25

Die kreative Rolle der Imagination
Richard J. Bernstein 51

Wandlungen des Intelligenzbegriffs bei Dewey:

Der Philosoph unter seinen Zeitgenossen
Charles Camic 69

Gerechtigkeitstheorie als Gesellschaftsanalyse:

Überlegungen im Anschluss an Hegel
Axel Honneth 89


II. Historismus und Pragmatismus:

Verschränkungen, Fortführungen und Korrekturen

Ernst Troeltsch und John Dewey: Religionsphilosophie
im Umfeld von Historismus und Pragmatismus
Friedrich Jaeger 107

Jenseits von Gemeinschaft und Gesellschaft:

Prozesse der Differenzierung und Individuierung aus
Sicht der Chicago School of Sociology
Hans-Joachim Schubert 131

Das Öffentliche: John Dewey im Vergleich mit Helmuth Plessner
Hans-Peter Krüger 151

III. Historismus und Pragmatismus in verschiedenen disziplinären Feldern

Welche Religion braucht der Mensch? Theorien
religiösen Wandels im globalen Zeitalter der Kontingenz
José Casanova 169

Zur Kontingenz religiösen Gewalthandelns
Hans G. Kippenberg 191

Historismus und Pragmatismus in Georg Jellineks
"Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte"
Winfried Brugger (†) 217

Pragmatismus und wirtschaftliches Handeln
Jens Beckert 247

IV. Zwischen Dilthey und Mead:

Hans Joas und die gegenwärtige Sozialtheorie

Makrotheorie zwischen Pragmatismus und Historismus
Wolfgang Knöbl 273

Menschliche Lebensform und historische Erfahrung:

Philosophische Anthropologie als
Vermittlung von Historismus und Invariantenlehre
Karl-Siegbert Rehberg 317

Menschliches Handeln, Geschichte und sozialer Wandel:

Rekonstruktion der Sozialtheorie in drei Kontexten
Björn Wittrock 343

Autorinnen und Autoren 377

Einleitung
Bettina Hollstein, Matthias Jung, Wolfgang Knöbl

Als der Historiker H. Stuart Hughes 1958, also vor gut 50 Jahren, sein Buch Consciousness and Society. The Reorientation of European Social Thought 1890-1930 veröffentlichte, wurde erstmals eine bis dato bestehende Lücke in der ideengeschichtlichen Literatur geschlossen: Hughes war es mit seinem Buch - das im Übrigen eine gewisse Parallele und vielleicht sogar Nähe zu Talcott Parsons' etwa zwei Jahrzehnte zuvor erschienenem frühen soziologischen Meisterwerk The Structure of Social Action erkennen lässt - gelungen, die nationalen Verengungen der Ideengeschichte aufzubrechen und dabei eine dezidiert europäische Perspektive einzunehmen, die im Ergebnis zu einem erstaunlich kohärenten Befund führte: Er konnte zeigen, dass europäische Intellektuelle und Sozialwissenschaftler in der von ihm beschriebenen Zeit mit ähnlichen Problemen kämpften, vormals gehegte Rationalitätsannahmen über menschliches Handeln hinterfragten, das Zusammenspiel zwischen ideellen und materiellen Faktoren im historischen Prozess ausloteten und die Frage der Steuerung politischer Entwicklungen mit bislang unbekannter Schärfe diskutierten. Wie Hughes' Studie nahelegt, zeichneten sich die Denkstrukturen von Bergson, Durkheim, Freud, Pareto, Sorel, Max Weber und anderen nicht zuletzt dadurch aus, dass sie zwar gegen andere Positionen mit ungeheurem Scharfsinn polemisierten, dass in ihren Werken aber gleichzeitig ungelöste Probleme und antinomische Züge unverkennbar blieben, die dafür verantwortlich sind, dass die Deutungen dieser damaligen "Meisterdenker" auch heute noch zu höchst unterschiedlichen Einschätzungen führen.
Heute ist die enorm verdienstvolle Arbeit von Hughes in vielerlei Hinsicht veraltet, unter anderem weil die mittlerweile erschienene Spezialliteratur zu den von Hughes untersuchten Autoren andere inhaltliche Akzentsetzungen nahelegt. Seine Urteile über manche der von ihm diskutierten Autoren sind insofern revisionsbedürftig. Methodisch ist natürlich darauf zu verweisen, dass Hughes' Versuch einer Europäisierung der Ideengeschichte nicht der Endpunkt sein konnte, weil es - und dies wurde vor allem seit den 1980er Jahren etwa durch die Arbeiten von James Kloppenberg, Daniel T. Rogers, Friedrich Jaeger und anderen immer deutlicher - einen nicht unerheblichen intellektuellen Austausch zwischen den USA und Europa gegeben hat, von dem nicht nur die Nordamerikaner, sondern auch die Europäer profitierten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die in dieser Zeit entflammende starke religionssoziologische und -philosophische Debatte in Frankreich und Deutschland ist ohne die Einbeziehung der Rezeption der Arbeiten von William James nicht zu verstehen, wie dies auch schon Hughes anerkennen musste.
Dennoch ist unverkennbar, dass Analysen zum intellektuellen Transfer zwischen den USA und Europa noch immer vergleichsweise selten sind. Obwohl einzelne Felder dieser transatlantischen Beziehung mittlerweile gut erforscht sind (etwa der Austausch sozialpolitischer und bürgerlicher Reformideen), lässt sich ein Gesamtbild noch nicht entwickeln, zumal andere Aspekte noch gar nicht berührt sind. Zudem taucht ein weiteres Problem in dieser Transferliteratur auf: Zu schnell ist man oft geneigt, die Ähnlichkeiten herauszuarbeiten, weshalb die durchaus vorhandenen scharfen Differenzen gar nicht mehr erkennbar werden, so dass letztlich unerklärbar ist, warum sich auf beiden Seiten des Atlantiks doch höchst unterschiedliche Wissenskulturen und disziplinäre Eingrenzungen entwickeln konnten. Ein allzu transferzentrierter Blick auf vermeintliche Konvergenzen hat zudem den Nachteil, dass man die Einseitigkeiten der jeweiligen Disziplinentwicklung gar nicht mehr zu Gesicht bekommt, man also übersieht, wie sehr sich die jeweiligen Denktraditionen hätten ergänzen und berichtigen können, wenn sie denn tatsächlich mehr voneinander Notiz genommen hätten. Genau dieser letzte Punkt steht im Mittelpunkt dieses Bandes: Unsere zentrale Hypothese ist, dass die einst gelegten Pfade kontinentaler Denktraditionen und die damit einhergehende Missachtung der jeweils anderen Richtungen jenseits des Atlantiks die Theorieentwicklung in den Sozial- und Geisteswissenschaften sowie der Philosophie blockiert haben und auch heute noch blockieren, dass also diese Traditionen zuallererst in ein produktives Verhältnis zueinander gesetzt werden müssen. Diese Überzeugung ist ihrerseits in der systematischen Intuition begründet, den sterilen Gegensatz von teleologisch verengten Handlungs- und historistisch verkürzten Erfahrungsbegriffen nicht zuletzt mittels ideengeschichtlicher Rückblicke und Analysen überwinden zu können.
Nun lässt sich unsere Hypothese natürlich nicht im Rahmen eines generellen "Kontinentalvergleichs" überprüfen, schon gar nicht mit einem Design, das zeitlich nicht eingegrenzt ist. Man muss sich bescheidenere Ziele setzen, weshalb wir uns hier auf Deutschland und die USA konzentrieren wollen und darüber hinaus überwiegend auf eine Zeit, in der entscheidende Weichenstellungen für die Konstituierung sozial- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen gelegt wurden: Es ist - ganz grob formuliert - die Phase, die auch von Hughes in den Fokus genommen wurde und die sich nun mit konkretem Bezug auf Deutschland und die USA mit den Stichworten Historismus und Pragmatismus umreißen lässt: Der Historismus in Deutschland und die Auseinandersetzung mit und Absetzung von ihm auf der einen Seite und der in den USA entstehende Pragmatismus auf der anderen Seite prägten in der Zeit zwischen 1880 und 1930 zutiefst die jeweiligen nationalen Wissenschaftskulturen und waren damit konstitutiv für die weiteren intellektuellen Entwicklungen in den beiden Ländern.
Wer von "Historismus" redet, der begibt sich freilich auf schwankenden Boden, weil dieser Begriff - wie viele andere - im Deutschland des 19. Jahrhunderts zunächst als Kampfbegriff zur Denunzierung des weltanschaulichen Gegners verwendet wurde und erst langsam und überwiegend retrospektiv durch die Ideengeschichtler eine einigermaßen feststehende Bedeutung gewann. Ein klarer Konsens besteht noch immer nicht, doch bezeichnet man als Historismus im engeren Sinn in der Regel ein von Historikern wie Leopold von Ranke, Gustav Droysen oder Barthold Georg Niebuhr vorangetriebenes Denken, das bestrebt war, alle individuellen und sozialen Phänomene im jeweiligen historischen Kontext zu verorten und damit alle vermeintlich gesicherten Wissensbestände und feststehenden Denkstrukturen (historisch) zu relativieren und auf diese Weise ein allzu lineares Fortschritts- und Prozessdenken zu unterminieren. Mit der angesprochenen Relativierung von Wissensbeständen und Denkstrukturen wurde man dann auf den engen Zusammenhang von Genese und Geltung aufmerksam, was wiederum unmittelbar mit dem Problem des (adäquaten) Verstehens und darüber hinaus mit der anthropologischen Frage nach der Art und Weise der Verkörpertheit des Menschen und seiner Handlungen verknüpft wurde. Aufgrund dieser sich aus dem historistischen Denken ergebenden Fragen und Probleme wurden gerade in Deutschland neue disziplinäre oder paradigmatische Ansätze angestoßen, also historistische Denktraditionen im weiteren Sinne - etwa die Hermeneutik, die Lebensphilosophie oder später die philosophische Anthropologie. All diese beeinflussten dann auch neu entstehende Wissenschaften wie etwa die Soziologie auf ungeheuer folgenreiche Weise.
Etwa zur gleichen Zeit entwickelte sich in den USA in den Arbeiten und Werken von Charles Sanders Peirce, William James, John Dewey oder George Herbert Mead das pragmatistische Denken, das ebenfalls in verschiedenste Disziplinen hineinwirkte, nicht zuletzt in die Soziologie. Das für uns Interessante am amerikanischen Pragmatismus besteht dabei darin, dass dort viele der im Historismus verhandelten Fragen und diskutierten Probleme ebenfalls auftauchten, dass die Fragen aber mit zum Teil ganz anderen Mitteln beantwortet, die Probleme mit zum Teil ganz anderen Methoden gelöst wurden. Nicht der traditionsbezogene Erfahrungsbegriff der historischen Wissenschaften stand hier am Anfang der philosophischen und grundlagentheoretischen Reflexion, sondern die Auseinandersetzung mit Darwin und seinen Theorien, die sofort in die Thematik des Interaktionszusammenhangs von Organismus und Umwelt hineinführte, womit natürlich die Verstehensfrage, aber noch sehr viel stärker der Zusammenhang von Handeln und menschlichem Bewusstsein, von Handeln und Erfahrung berührt wurden. So hat etwa John Dewey in seinem frühen Aufsatz über den Reflexbogen gezeigt, dass Menschen Erfahrungen überhaupt nur machen können, weil sie handelnd je schon in ihre Umwelt verstrickt sind, was letztlich bei Dewey, aber insbesondere bei Mead, einem der Gründungsväter der amerikanischen Soziologie, zu einer völlig anderen Konzeptualisierung des Handelns führte, als dies etwa fast zeitgleich bei Max Weber der Fall war.
Genau dieses pragmatistische Denken soll nun mit dem Traditionsstrom des Historismus in Verbindung gebracht werden, weil die Möglichkeiten der wechselseitigen Befruchtung dieser beiden Denkansätze bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Dieses Defizit hat schon in der Vergangenheit in Zentralbereichen mehrerer Disziplinen, insbesondere in der Philosophie, der Soziologie und in den Wirtschaftswissenschaften erhebliche negative Konsequenzen gehabt: Wäre beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem pragmatistischen Denken in der Philosophie des deutschsprachigen Raumes nicht bis auf wenige Ausnahmen mit Beginn des Ersten Weltkriegs abgebrochen und erst, unter ganz anderen Vorzeichen, von Karl-Otto Apel wieder aufgenommen worden, dann hätte etwa Heideggers Sein und Zeit mit seinen pragmatistischen Tendenzen eine andere, kritischere und vielleicht nüchternere Rezeptionsgeschichte gehabt. Hätte es - in umgekehrter Richtung denkend und nun die Soziologie einbeziehend - in den USA nach 1918 eine intensivere Rezeption historistischen Denkens gegeben, dann hätte man nach 1945 sicherlich eine versiertere makrosoziologische Theorie als gerade die Modernisierungstheorie entwickeln können, die mit ihrer allzu linearen und optimistischen Geschichtsvorstellung dem historistischen Gespür für Kontingenzen fundamental widersprach. Und schließlich: Hätte man sich in den Wirtschaftswissenschaften etwas stärker auf die im amerikanischen Pragmatismus steckende Kreativitätsproblematik eingelassen, dann wären diesseits und jenseits des Atlantiks die Vereinseitigungen der ökonomischen Theorie (sowohl in der Neo-Klassik wie im neo-institutionalistischen Denken), die heute angesichts der weltweiten Krisen beklagt werden, zumindest teilweise verhindert worden.
Es ist also von einem höchst fruchtbaren Spannungsverhältnis von Pragmatismus und Historismus auszugehen, das bislang noch nicht ausreichend untersucht und gewürdigt wurde. Besonders instruktiv und in systematisch interessanter Weise manifestiert sich die so umrissene Konstellation - wie schon betont - in der formativen Phase des modernen Sozialdenkens. Diese gehört in den Zusammenhang jener "kulturellen Doppelrevolution" (Gangolf Hübinger) der Jahrzehnte unmittelbar vor und nach 1900, die durch vielfältige wissenschaftstheoretische und grundlagentheoretische Innovationsschübe, aber auch durch den sozialen Umbruch zur Massenkommunikationsgesellschaft gekennzeichnet waren. Und noch die Theorieschulen, Methodenströmungen und Forschungsfelder unserer Gegenwart lassen sich vielfach als Resultate von Differenzierungsprozessen deuten, die in den damaligen Diskussionszusammenhängen bereits angelegt waren. Schon die elementarsten Gliederungen des Gegenstandsbereichs durch Etiketten wie "Sozialwissenschaften", "Soziologie", "Sozialphilosophie", "Gesellschaftstheorie", "social thought" reflektieren nämlich jeweils spezifische, pfadabhängige Konkretisierungen und häufig auch Einseitigkeiten, was sich am deutlichsten wohl an dem stets prekären Verhältnis zwischen sozialwissenschaftlicher Empirie und normativ interessierten Theorieansätzen zeigt, die auch politische und kulturelle Dimensionen einbeziehen möchten.