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Kronauer

Zweideutigkeit

Essays und Skizzen

Medium: Buch
ISBN: 978-3-608-93334-5
Verlag: Klett-Cotta Verlag
Erscheinungstermin: 26.08.2002
Lieferfrist: bis zu 10 Tage
Literarische Rezensionen zu zeitgenössischen Schriftstellern und großen, von ihr neu gelesenen Autoren der Literaturgeschichte. Ein bei einem Zürich-Aufenthalt entstandenes literarisches Tagebuch. Und zuletzt Ansprachen, die im weiteren Sinn von der Literatur in unserer Gesellschaft handeln. Genauigkeit und Emphase - diese beiden Begriffe, die für Brigitte Kronauers Erzählstil charakteristisch sind, gelten auch für die Texte dieses Buchs. Sie zeigen die eminente Spannweite ihres Nachdenkens und Schreibens: Ein neuer Blick fällt auf die beiden Giganten der angelsächsischen Literatur, Melville und Conrad. Lou Andreas-Salomé wird einmal nicht als Gefährtin berühmter Männer, sondern als Schriftstellerin gewürdigt. Hofmannsthal und Nabokov werden neu gelesen; der Film, die Kunstgeschichte und der Comic haben Brigitte Kronauer beschäftigt.

Produkteigenschaften


  • Artikelnummer: 9783608933345
  • Medium: Buch
  • ISBN: 978-3-608-93334-5
  • Verlag: Klett-Cotta Verlag
  • Erscheinungstermin: 26.08.2002
  • Sprache(n): Deutsch
  • Auflage: 2002
  • Produktform: Gebunden, gebunden
  • Gewicht: 488 g
  • Seiten: 320
  • Format (B x H x T): 136 x 211 x 35 mm
  • Ausgabetyp: Kein, Unbekannt

Autoren/Hrsg.

Autoren

Kronauer, Brigitte

Brigitte Kronauer, 1940 in Essen geboren, lebte als freie Schriftstellerin in Hamburg. Ihr schriftstellerisches Werk wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis der Stadt Berlin, mit dem Heinrich-Böll-Preis, dem Hubert-Fichte-Preis der Stadt Hamburg, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Jean-Paul-Preis ausgezeichnet. 2005 wurde ihr von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung der Büchner-Preis verliehen. Brigitte Kronauer verstarb im Juli 2019.

Vorwort

Haben Sie jemals an einem späten südlichen Sommerabend den vertikalen Insektenfang eines Geckos an einer Hausmauer zwischen Schatten und Lichtkegel einer Türlampe verfolgt? Mit Spannung nimmt man Anteil an jedem spektakulären Treffer und fraglos Partei für den kleinen Artisten. Plötzlich aber passiert etwas anderes. Man identifiziert sich für Sekunden mit der Beute, die arglos im Licht sitzt, wenn der urtümliche Kopf des Monsters mit Glotzaugen und Rachenschlund aus dem Dunkel hervorschießt. Ist man dann wieder ganz auf der Seite des Geckos und seines Jagdglücks, bleibt doch eine irreversible Schattierung des Anblicks zurück.

Ein bekannter Mann betritt einen Schauplatz. Das plaudernde Publikum erwartet ihn und einige andere prominente Gäste, allerdings kündigt niemand den aktuellen Moment seines Erscheinens an. Wenn er die Tür öffnet und den ersten Schritt macht, weiß er nicht, ob man ihn erkennen und allseits heftig applaudierend begrüßen oder - genau so möglich - überhaupt nicht bemerken wird. Vielleicht werden ihm einige Aufmerksame lächelnd zunicken, aber er muß mit den beiden Extremen rechnen, um als Identifizierter und Gefeierter sogleich eine gute Figur zu machen, beziehungsweise im entgegengesetzten Fall nicht einen sozialen horror vacui zu erleben, bei dem er sich obendrein mimisch offenbaren könnte. Wenn man ihn zufällig genau in dieser Sekunde ins Auge faßt, verrät er natürlich selbst bei großer Beherrschung angesichts der lächerlich unerheblichen Situation seine doppelseitige Vorausschau und Wappnung.

Und man selbst? Erlebt man nicht auch etwas Bilaterales, nämlich in kleiner, aber präziser Portionierung die Schadenfreude der Indiskretion und zugleich die Scham darüber?

Beides zusammen macht den Augenblick erst pikant und denkwürdig.

Angesichts einer Strandszene im letzten Sommer habe ich mich, mehr und mehr hingerissen, gefragt, wieviel man eigentlich gleichzeitig an Widersprüchlichkeiten empfinden kann. Ein etwa fünfunddreißigjähriger Vater saß zunächst neben seinem schätzungsweise vierjährigen Sohn. Zwei nette Kumpel. Als sich der Mann plötzlich auf den Rücken legte, klappte das Bild um: Der Junge warf sich auf den Vater und drehte gewaltsam dessen Gesicht immer wieder nach links, um ihn auf die rechte Wange zu küssen. Der Vater ließ, mit gespieltem schwachem Widerstand, lachend geschehen, daß sein Sohn erste Liebhabergesten übte.

Hier brachten die geradezu erbitterte Beharrlichkeit des Jungen und das unaufhörliche, überaus amüsiert wirkende Lachen des Mannes auf der anderen Seite nur allmählich anschwellend die besondere Atmosphäre zustande. Was gefiel dem Erwachsenen so an seinem Sprößling: Daß der seinem Vater offenbar das Ritual abgesehen hatte, wenn dieser mit seiner Frau beschäftigt war und nun vielleicht sogar seinem Erzeuger eine vernachlässigte Note beim einschlägigen Treiben in Erinnerung rief? Erkannte er sich selbst als erotisch Inspirierten in der Verkleinerung wieder oder unterhielt ihn eher die Umkehrung: der viel schwächere Partner als schon recht professionell Attackierender ? Reagierte er zu seiner eigenen Überraschung mit der psychisch- physiologischen Animiertheit einer Frau auf die Angriffe des Kleinen?

Hat man noch nicht genug, kann man das Fragespielchen bis zur Penetranz verlängern:

Dachte er mit gelindem und behaglichem Schrecken daran, wie bedenklich die Konstellation mit einer Tochter wäre, während sie in dieser Weise bei aller Privatheit vorläufig sanktioniert war, auch und gerade in der Öffentlichkeit eines Strandes? Lachte er so ausufernd, weil er sich die Szene als Steigerung der neueren Reklameentdeckung des Pärchens Vater-Sohn vorstellte?

Alles konnte ebenso unter harmloser Freude am männlichen Kampf und Gerangel laufen. Vielleicht malte sich der Mann auch eine konterkarierende Vollendung des imitationswürdigen Spielchens mit seiner Frau aus, nicht ohne Hinweis auf ihr frühreifes Früchtchen. Der Junge küßte - den Gedanken einer angedeuteten Mordlust mal beiseite - jetzt seine sich sträubende Beute wie wild auf den gleichgeschlechtlichen Mund, wobei er deren Gesicht mit beiden Händen in kindlicher Raserei festhielt. Sobald er dazu in der Lage war, lachte der Mann wieder lauthals. Eventuell vermutete er, daß sich die Umliegenden ìnsgeheim alle diese überflüssigen Fragen stellten, oder er war einfach bloß physiologisch gekitzelt und sonst nichts.

Mein eigenes Vergnügen als Zuschauerin bestand jedenfalls im Schwanken zwischen all diesen jeweils nicht unplausiblen Möglichkeiten, die gemeinsam in ein einziges Bild gesperrt waren, ohne Reihenfolge: ein flackerndes Anspielen der generell existierenden, gewöhnlich aber von nur einer Interpretation dominierten und also nicht zum Zuge kommenden Facettenfülle solcher Szenen.

Einen begeisterten Schock löste dagegen, mit dem ersten zweideutigen Anblick, eine Plastik von Christa Biederbick aus, als ich sogleich bei Betreten des Ateliers folgendes wahrnahm: Eine wehrlos auf dem Rücken, wie tot am Boden Liegende, weißhäutig nackt und rothaarig, Zeichen gefährdeter Empfindlichkeit, über die sich, Brust an Brust, ein großer schwarzer Hund hermachte, der zurückgeworfene Kopf mit hochgereckter Schnauze und zwischen dem offengezeigten Gebiß heraushängender Zunge, wie man es von barocken Jagdskulpturen kennt. So bäumen sich sterbende Eber und Hirsche noch einmal auf. Irgend etwas Katastrophales schien im Gange zu sein. Das Aufrührerische war die Kombination von Mensch und Tier in der Umkehrung der Konvention, noch bevor ich Einzelheiten ausmachen konnte. Etwas übermittelte sich auf Anhieb: die Zweideutigkeit eines Tabubruchs, der sich als Harmloses natürlich immer noch herausstellen konnte.

Um was handelte es sich? Auch hier wäre die mögliche Fragelitanei beträchtlich. Sie bleibt trotzdem unvollständig:

Triumph eines animalischen Jägers über seiner Beute, Entdeckung fleischlichen Abfalls und beginnender Kadaverfraß? Exzessive Klage eines zurückgelassenen Tieres auf seiner toten Herrin? Besitzergreifendes Gepränge eines wachenden Tieres, das furchteinflößend gähnte, während seine Schutzbefohlene seelenruhig schlief? Nicht nur das teilte sich bereits in der ersten Sekunde mit, sondern auch, wegen der keineswegs beiläufigen, ja gegenpolig zugespitzten Körperlichkeit beider Wesen - es stellte sich dann heraus, daß, die tierische Präsenz unabhängig von seiner geringen Leibesgröße vervielfachend, ein zweiter Hund an der Seite des schwarzen auf dem zugedeckten Bauch der ausgestreckten Frau lag, die im Halbschlaf sanft eine Pfote des größeren Tieres in der Nähe ihres Gesichts berührte - der zumindest unterschwellige Anflug einer sodomitischen Nuance. In aller Unschuld, was die Wirkung erhöhte. Schranken wurden extra betont, um sie im selben Moment zu sabotieren.

Erfährt man dann, die Arbeit gehe zurück auf ein Foto von über Land reisenden Buren - aus ihren Reihen rekrutierten sich einst die striktesten Befürworter der Apartheid in Südafrika -, die neben ihrem Auto am Straßenrand schlafen, so macht das die zeitliche Entrückung der Vorlage um so deutlicher. Die Plastik hat, beginnend damit, daß die zufällige Momentaufnahme in die Räumlichkeit lebensgroßer Terracottafiguren übersetzt wurde, in strategischer Veränderung und Reduktion der Details, von der Feistheit des bemächtigenden Hundekörpers bis zur elfischen Fragilität der willenlos Schlafenden, die Realität abgelöst in der Verantwortung und spricht, durch gezielte künstlerische Maßnamen, die schwebendere, wenn man will: die anstößigere, auch: mythologische Sprache.

Ambivalenz der Bezüge jenseits aller infantilen hermetischen Zweiweltenteilung, hier zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur, kommt in besonderem Maße dem, was jedes Verhältnis der Wirklichkeit bestimmt, nämlich einer stets ruhelosen Wahrheit, näher als die statische Monoperspektive. Das macht für mich höchst prekäre Idyllen wie ausgewiesene Naturschutzgebiete, botanische Gärten und erst recht Zoos gerade nicht, wie man so gern blindlings gegen sie einwendet, zu falschen, vielmehr zu besonders realistischen Orten, die trotzdem begrenzte Illusionen nicht ausschließen. Das dort durch die Verhältnisse erzwungene Changieren der Blickwinkel garantiert die Befriedigung des Verstandes und zugleich, bei wendiger, nicht ideologisch eingeschüchterter Wahrnehmung, den nicht enträtselbaren Zauber des Anblicks.

Die vorliegende Sammlung besteht aus Texten, die innerhalb von zehn Jahren zu sehr unterschiedlichen Anlässen geschrieben wurden. Sie überschneiden sich teilweise in ihren Gegenständen und Argumentationen und spiegeln, ohne daß ich es von vornherein beabsichtigt hätte, mein durchgehendes Interesse am Thema. Oder müßte ich sagen: meine Faszination, die sich gelegentlich einem Credo nähert? Literarisch verkörpert sich mir die Anziehungsmacht des Zweideutigen am unwiderstehlichsten in Herman Melvilles "Moby Dick" und in Joseph Conrads "Lord Jim".

Leibhaftig aber übte sie zum ersten Mal ihre Herrschaft über mich als ich vierzehn war, in besonders verführerischer Version: in der Filmgestalt Marlon Brandos.