1 Einleitung: Der Wandel staatlicher Grenzen
Staatliche Grenzen regulieren den Zugang mobiler Personen auf ein national definiertes Hoheitsgebiet. Diese Funktion tritt mit steigender globaler Mobilität stärker ins Bewusstsein als die markierende Funktion der Territorialgrenze, die zuvor über Jahrhunderte Gegenstand von Verhandlungen und kriegerischen Konflikten gewesen war. Das durch die Grenze definierte Territorium wurde als regulärer Aufenthaltsort der nationalen Gesellschaft begriffen und Grenzübertritte eher als Ausnahme denn als Regel betrachtet. Doch heute stellen Grenzüberschreitungen in Gestalt von Tourismus, internationale Migration oder Flucht ein Massenphänomen dar. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen leben gegenwärtig mehr als 213 Millionen Menschen dauerhaft jenseits ihres Herkunftslandes und diese Zahl steigt weiter an (UNDESA 2011). Neben den Migrationsbewegungen haben sich erst recht die kurzfristigen Grenzüberschreitungen verstärkt. Im Jahr 2012 überstieg die Anzahl der touristischen Reisen, bei denen eine staatliche Grenze überschritten wurde, erstmals die Marke von einer Milliarde (UNWTO 2012). Reisen zu geschäftlichen Zwecken machen davon etwa 15 Prozent aus (UNWTO 2011). Aus unterschiedlichen Weltregionen sind Menschen im Verlaufe der letzten Jahrzehnte mobiler geworden und überschreiten aus sehr unterschiedlichen Motiven Grenzen (Faist u.a. 2013; Sassen 2000a; Vasileva 2010). Grenzüberschreiter setzen sich aus Touristen, Geschäfts- und Bildungsreisenden, Flüchtlingen, Arbeitsmigranten sowie irregulären Einwanderern zusammen, die für den Staat in unterschiedlichem Maße erwünscht oder unerwünscht sind.
Grenzüberschreitende Personenmobilität ist zu einem drängenden Thema staatlicher Regulation geworden, weil sich die Frage stellt, ob die klassischen, territorialen Grenzkontrollen noch die passende Antwort auf den Anstieg und die Diversifizierung von Grenzüberschreitungen bieten. Wie reagieren Staaten, wenn sich sowohl willkommene als auch nicht-will-kommene Mobilitätsformen immens erhöhen und ihr Territorium Ziel dieser räumlichen Bewegungen wird?
Der allgemeine Anstieg grenzüberschreitender Mobilität ist global ge-sehen sehr ungleich verteilt (Bauman 1998; Betts 2011). Bürger aus den reichen Industrienationen überschreiten Grenzen ungleich häufiger und legen dabei weitere Distanzen zurück. In einer Welt, in der Lebenschancen auch mit der individuellen Chance auf Mobilität verbunden sind, wirft diese ungleiche Mobilität Fragen nach Gerechtigkeit und sozialer Ungleichheit auf (Berger/Weiß 2009; Cresswell 2006; Mau 2012). Grundsätzlich wird angenommen, dass Mobilität und ihre Reichweite abhängig von den finanziellen, technischen und sozialen Ressourcen ist, die Menschen zur ihrer individuellen Verfügung stehen (Mau 2007; Urry 2007). Darüber hinaus kann jedoch auch die Gestaltung staatlich-territorialer Grenzen entscheidend dazu beitragen, Mobilitätschancen ungleich zu verteilen. Von diesem Gedanken nimmt das vorliegende Buch seinen Ausgangpunkt und fragt danach wie sich staatliche Grenzen auf die veränderte grenzüberschreitende Mobilität eingestellt haben.
Die Erteilung einer Einreiseerlaubnis durch ein Zielland ist bis heute Voraussetzung für den legalen Zutritt auf dessen Territorium, sofern eine Person nicht die Staatsbürgerschaft des Landes besitzt (Torpey 1998). Seinen eigenen Bürgern muss ein Staat entsprechend völker- und men-schenrechtlichen Verpflichtungen die Einreise gestatten (Bauböck 2009; Cresswell 2006). Die meisten Staaten der Erde gewähren jedoch Bürgern aus bestimmten anderer Ländern die freie Einreise auf ihr Territorium ohne dass sie zuvor ein Visum beantragen müssten (Mau u.a. 2012). Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Freizügigkeit aller Bürger der Euro-päischen Union zwischen den Mitgliedstaaten. Jenseits solcher generali-sierten Genehmigungen für grenzüberschreitende Mobilität aufgrund einer nationalen Zugehörigkeit müssen mobile Personen individuell über den Grenzübertritt und den Verbleib in ihrem Zielland mit dem jeweiligen Staat verhandeln. In der Begegnung einer einreisewilligen Person mit der Grenze wird über dieses Anliegen entschieden. Die Grenzpolitik eines Landes stellt dabei Regeln für den territorialen Zutritt auf und etabliert Instrumente, die diese Regeln zur Durchsetzung bringen.
Zeitgleich zur Zunahme der Grenzüberschreitungen hat sich die Grenzpolitik vieler Zielländer erheblich gewandelt. Grenzen werden tech-nisch modernisiert und zum Teil gemeinsam reguliert, Grenzöffnung steht neben deutlich forcierter Grenzbefestigung. Da Grenzüberschreitungen in ihrer Zusammensetzung immer heterogener geworden sind, versuchen Zielländer bei der Regulation ihrer Grenzen, stärker zwischen "erwünschten" und "unerwünschten" Personengruppen zu unterscheiden (Salter 2010; Shachar 2007; Shamir 2005). Diese Veränderungen werden auf verschiedene Prozesse zurückgeführt, die letztlich jedoch alle im Kontext der Globalisierung, also immer enger verknüpfter sozialer, wirtschaftlicher und staatlicher Beziehungen, stehen. Besonders die Staaten der OECD geraten hier ins Blickfeld, weil sich ihre Politik stark internationalisiert hat und sie Zielländer globaler Mobilität sind, die sich sowohl als Tourismus als auch als internationale Migration zeigt.
Seit den 1990er Jahren nimmt sich die sozialwissenschaftliche For-schung diesen Entwicklungen an und analysiert die veränderte Rolle und Bedeutung von Grenzen in den liberalen Demokratien des globalen Nor-dens. Vor allem zu Beginn konstatierten Autoren einen erheblichen Rück-gang der nationalstaatlichen Steuerungsfähigkeit und sahen eine "grenzen-lose Welt" im Entstehen begriffen (French 2000; Ohmae 1990). Genährt wurde diese Einschätzung zunächst von einer Fülle beobachtbarer Verän-derungen nach dem Ende des Kalten Krieges: Hierzu zählte vor allem der Abbau von Grenzanlagen in Europa, die Wahrnehmung einer sich globali-sierende Wirtschaft (Ohmae 2005; Sassen 1996), zwischenstaatliche Ko-operationen, bei denen Ansprüche auf staatliche Autorität geteilt wurden (Vobruba 1993), sowie der Anstieg von Fernreisen, Transport- und Kom-munikationsmöglichkeiten (Castles/Miller 1993; Urry 2007). Angesichts des nie da gewesenen Ausmaßes der Mobilitätsströme wird auch in jünge-ren Publikationen herausgestellt, dass diese von staatlicher Hand auch dann nicht mehr aufzuhalten seien, wenn Grenzen weiter bestehen (Bhagwati 2003).
Haben Nationalstaaten tatsächlich einen Verlust territorialer Kontroll-fähigkeit zu verzeichnen (Sassen 1996)? Als Kontrapunkt zu der These von einer entgrenzten Welt haben andere Autoren ihr Augenmerk bewusst auf das Erstarken staatlicher Intervention in Mobilität und den Erhalt grenzpolitischer Autorität gelegt (Newman 2006a; Torpey 2000b). Die Möglichkeit eines Kontrollverlusts über territoriale Grenzen wird dabei nicht grundsätzlich bestritten, es wird jedoch betont, dass dem Staat ausreichend Mittel zur Verfügung stehen, um den genannten Herausforderungen erfolgreich zu begegnen (Joppke und Guiraudon 2001). Vor allem die letzten Jahre haben empirische Studien hervorgebracht, die diese Argumentation stützen. Dabei werden in der Regel Beispiele für die Regulation von Migrations- und Fluchtbewegungen herangezogen (Andreas/Biersteker 2003; Betts 2011; Dijstelbloem/Meijers 2011; Spijkerboer 2007; Weber/Pickering 2011). Dieser Forschungsstrang stellt die Instrumente und Poli-tikprozesse heraus, die auf eine Restriktion "unerwünschter" Grenzüber-schreitungen zielen (Bø 1998; Guild/Bigo 2002; Guiraudon/Joppke 2001; Lahav 2004; Pickering/Weber 2006b; Walters 2002). Häufig erscheinen die reichen Demokratien der OECD-Welt dabei als starke Ak-teure, die ihre Territorien vor Zuwanderung schützen wollen und daher eine "Wall around the West" errichten (Andreas/Snyder 2000).