Wir sind die, vor denen Euch die Linken immer schon gewarnt haben:
Eine Einleitung
Daniel Schmidt/Michael Sturm
Junge Menschen in Abendgarderobe stehen vor der barocken Kulisse eines Schlosses, in ihrer Mitte ein schnittig-mondäner Sportwagen. Lächelnd prosten sie mit ihren Sektgläsern in die Kamera. "Wir sind die, vor denen Euch die Linken immer schon gewarnt haben", ist darüber zu lesen, darunter befindet sich das Logo des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS). Mit diesem Wahlplakat warb der RCDS an der Wende zu den 1980er Jahren um Wählerstimmen - mit selbstironischen Hinweisen auf das "entzückende kleine Lustschlößchen", das als Zweiggeschäftsstelle diene, sowie auf das "schnuckelige Zweitauto" sollten die Vorurteile der Kommilitoninnen und Kommilitonen entkräftet werden. Tatsächlich konnte der christdemokratische Studentenverband, nicht zuletzt indem er sich bestimmte politische Praktiken seiner Gegner aneignete, durchaus bemerkenswerte Erfolge vorweisen: Bei den Wahlen zu den Studentenparlamenten im Jahr 1976 errang der RCDS beispielsweise rund ein Fünftel der Stimmen. Noch weitaus erfolgreicher waren seine Mutterparteien CDU/CSU, die bei der Bundestagswahl im selben Jahr mit 48,6 Prozent ihr zweitbestes Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik erzielten. Nicht nur die ungeahnten Höhenflüge der Unionsparteien bei Bundes- und Landtagswahlen, auch ihre rasant steigenden Mitgliederzahlen lassen auf eine beachtliche Attraktivität schließen. Vor allem junge Menschen engagierten sich zunehmend in der Union oder ihren Vorfeldorganisationen - der Politisierungsschub der 1970er Jahre wirkte sich also in allen politischen Lagern aus.
Trotz der offenkundigen Evidenz dieser Mobilisierungs- und Politisierungsprozesse im christdemokratisch-konservativen Spektrum sind die 1970er Jahre im kollektiven Gedächtnis der Deutschen als ein Jahrzehnt verankert, in dem die Linke zwischen den beiden Polen SPD und RAF die politische und kulturelle Szenerie maßgeblich prägte. Die neuen sozialen Bewegungen gelten ebenso als ein dem linken Spektrum zuzuordnendes Phänomen wie die sich neu ausformenden Jugendsubkulturen, beispielsweise der Punk. Insbesondere Gerd Koenen hat dazu beigetragen, dieses Deutungsmuster zu verfestigen, indem er die Dekade zwischen 1967 und 1977 als ein rotes Jahrzehnt interpretierte. Dabei nahm er Topoi auf, die schon die zeitgenössische Diskussion bestimmt hatten, und spitzte sie in seiner Konzentration auf die (linken) Akteure jener "kleinen deutschen Kulturrevolution" erneut zu. Tatsächlich konzentrierte sich die bundesdeutsche Gesellschaft in den 1970er Jahren in ihrer Selbstwahrnehmung auf Phänomene, die - ein breites Verständnis dieses Begriffs vorausgesetzt - als links gelten können. Dies verdeutlichen beispielsweise die Ausdrücke, die von der Gesellschaft für deutsche Sprache in die Liste der "Wörter des Jahres" aufgenommen wurden. Neben dem Wortfeld Terrorismus, das vor allem in den späten 1970er Jahren mit Begriffen wie "Terrorismus/
Terrorist", "Sympathisant" (1977), "konspirative Wohnung" (1978) oder "Rasterfahndung" (1980) dominierend war, finden wir vor allem auch Wörter, die die wachsende Bedeutung der neuen sozialen Bewegungen bzw. des linksalternativen Milieus im öffentlichen Bewusstsein unterstreichen, so unter anderem "Umweltschutz", "Umweltverschmutzung" (1971), "Szene" (1977), "Die Grünen" (1978), "alternativ" (1979) oder "Instandbesetzer" (1980).
Der erste zeithistorische Zugriff auf die 1970er Jahre wurde durch diese zeitgenössischen Wahrnehmungen und Deutungen geprägt. Ausgangspunkt einer Sichtweise, die sich vor allem auf die roten Elemente der 1970er Jahre konzentriert, sind die Protestereignisse, die zwischen 1967 und 1969 Westdeutschland und die Welt bewegten und die in der Chiffre "1968" verdichtet wurden. Die Interpretationen dieses Wunderjahrs divergieren; bereits Zeitgenossen, die keineswegs ausschließlich oder überwiegend konservativ oder gar reaktionär waren, artikulierten massive Kritik an den ideologischen Orientierungen und der politischen Praxis der Studentenbewegung. Solche gegenläufigen Deutungen wurden im Erinnerungsdiskurs allerdings zunächst verschüttet - eine wichtige Voraussetzung für die hegemoniale Vorstellung von einem roten Jahrzehnt nach 1968. Als längerfristig wirksam erwies sich die Auffassung einer zweiten bzw. eigentlichen Gründung der Bundesrepublik im Zeichen fundamentalen gesellschaftlichen und kulturellen Wandels, die insbesondere von vormaligen Akteuren vertreten wurde. Zwar kann die Habermas'sche These der "Fundamental-liberalisierung" immer noch eine ebenso breite wie gewichtige Anhängerschaft hinter sich versammeln, die Rolle, die den 1968ern in diesem Prozess zukommt, ist inzwischen allerdings stark relativiert worden. Jenseits aller Kontroversen über die Verortung von "1968" besteht allerdings kaum ein Zweifel an dessen Zäsurcharakter - allein die fortgesetzte Intensität, mit der sich Zeitgenossenschaft, Publizistik und Wissenschaft an "1968" abarbeiten, belegt die grundlegende Bedeutung dieses Jahres.
Nicht nur 1968, auch das Jahrzehnt danach erweist sich als mehrdeutig - dies jenseits vorwissenschaftlicher Auffassungen zu verdeutlichen, ist das zentrale Anliegen dieses Bandes. Indem gegenläufige Bewegungen, alternative politische Auffassungen, Modelle sowie Akteure in der "Mitte und rechts davon" thematisiert, gewichtet und eingeordnet werden, möchten wir erste Ansatzpunkte einer differenzierten Betrachtungsweise liefern, in die wir auch internationale Perspektiven einbeziehen. Nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, auch in anderen europäischen Staaten existierten Tendenzen in Politik, Kultur und Gesellschaft, die diffusen Vorstellungen eines sozialdemokratischen bzw. linken Zeitgeistes entgegenliefen. Daher stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die 1970er Jahre nicht mit gleichem Recht auch als ein schwarzes Jahrzehnt bezeichnet werden könnten. Da Forschungen hierzu noch in den Anfängen stecken, liegt diesem Band die Idee zugrunde, Diskussionen und somit weitere Studien anzustoßen. Eine bloße Organisationsgeschichte ist nicht intendiert, vielmehr sind die Beiträge des Bandes vor dem Hintergrund des folgenden Referenzrahmens zu sehen, der gleichzeitig als Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen dienen soll.