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Loth

"Freiheit und Würde des Volkes"

Katholizismus und Demokratie in Deutschland

Medium: Buch
ISBN: 978-3-593-50838-2
Verlag: Campus Verlag GmbH
Erscheinungstermin: 10.07.2018
sofort versandfertig, Lieferfrist: 1-3 Werktage
Der Katholizismus zählte nicht zu den Pionieren der Demokratisierung in Deutschland. Gleichwohl ergaben sich aus den sozialen Bewegungen, mit denen er verknüpft war, und der Oppositionsrolle, die ihm im Zuge des "Kulturkampfs" zuwuchs, Impulse, die die Entwicklung zu einer Demokratie förderten. Dieses Buch zeichnet das Verhältnis von Katholizismus und Demokratie nach - von der Stigmatisierung in der Bismarckära über ihren Beitrag zur Parlamentarisierung der Weimarer Republik und zum Widerstand im "Dritten Reich" bis hin zur Entstehung der Nachkriegsordnung nach 1945.

Produkteigenschaften


  • Artikelnummer: 9783593508382
  • Medium: Buch
  • ISBN: 978-3-593-50838-2
  • Verlag: Campus Verlag GmbH
  • Erscheinungstermin: 10.07.2018
  • Sprache(n): Deutsch
  • Auflage: 1. Auflage 2018
  • Serie: Religion und Moderne
  • Produktform: Kartoniert, KART
  • Gewicht: 396 g
  • Seiten: 304
  • Format (B x H x T): 142 x 213 x 38 mm
  • Ausgabetyp: Kein, Unbekannt

Autoren/Hrsg.

Autoren

Loth, Wilfried

Wilfried Loth ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.

Einleitung 9
1. Katholizismus und Moderne - Überlegungen zu einem dialektischen Verhältnis 19
I. Ultramontane Abwehr 19
II. Bewegung in der Moderne 21
III. Der deutsche Katholizismus 25
IV. Erfolg und Niedergang 33
2. Bismarcks Kulturkampf - Modernisierungskrise, Machtkämpfe und Diplomatie 35
I. Die Formierung der Zentrumspartei 36
II. Kulturkampf-Maßnahmen 40
III. Windthorst gegen Bismarck 46
IV. Schwierige Verhandlungen 48
V. Ein stabiler Kompromiss 53
3. Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs 54
I. Das katholische Deutschland 54
II. Ultramontanismus und Milieubildung 56
III. Der ländliche Populismus 62
IV. Der bürgerliche Aufbruch 71
V. Die katholische Arbeiterbewegung 77
VI. Integration und Erosion 86
4. Katholische Milieubildung, katholische Subgesellschaft und Zentrumspartei 92
I. Milieus als sozio-kulturelle Gebilde 93
II. Milieubildung im katholischen Deutschland 96
III. Katholische Subgesellschaft 102
IV. Pluralisierung und Integration 105
5. Georg Friedrich Dasbach - Kulturkämpfer und Baumeister des Katholizismus 108
6. Die deutschen Sozialkatholiken in der Krise des Fin de siècle 117
I. Aus dem Turm heraus 118
II. Sozialpolitischer Empirismus 120
III. Sozialer und zivilisatorischer Fortschritt 125
IV. Getrennte Wege 130
7. Der Volksverein für das katholische Deutschland 133
I. Eine Notgeburt 134
II. August Pieper und die Kraft der Organisation 138
III. Erfolg mit der Arbeiterbewegung 142
IV. Grenzen und Krisen 146
8. Bischof Karl Joseph Schulte von Paderborn (1910-1920) und der Streit um die Christlichen Gewerkschaften 149
I. Die katholische Arbeiterbewegung unter Verdacht 150
II. Die Bischöfe, der Volksverein und die Gewerkschaften 152
III. Die Intervention des Papstes 155
IV. Schultes Vermittlung 159
V. Schulte gegen Kopp 161
VI. Halbherzige Duldung 165
9. Der Katholizismus und die Durchsetzung der Demokratie in Deutschland 167
I. Pragmatischer Konstitutionalismus 169
II. Stärkung des Reichstags 173
III. Verschleppte Demokratisierung 179
IV. Polarisierung im Weltkrieg 185
V. Aufbau und Untergang 191
VI. Das Ende der Ambivalenz 196
10. Zentrum und Kolonialpolitik 197
I. Bekehrung zur Weltpolitik 198
II. Opposition der "Zentrumsdemokraten" 204
III. Bürgerlicher Imperialismus 211
11. Das Reichskonkordat und der Untergang des politischen Katholizismus 215
I. Ein ursächlicher Zusammenhang? 215
II. Einwände 218
III. Was bleibt? 220
12. Katholische Kirche und Widerstand im "Dritten Reich" 225
I. Halbherziger Protest 226
II. Anprangerung des Unrechtsstaats 232
III. Die Frage des Widerstands 237
IV. Ergebnisse 240
13. Nikolaus Groß - Christliche Existenz in totalitärer Zeit 243
I. Ein katholischer Arbeiterführer 244
II. Katholische Arbeiterbewegung im "Dritten Reich" 248
III. Engagement im Widerstand 251
IV. Die Unterstützung des Attentats 254
14. Katholizismus, Pluralismus und die moderne Demokratie 258
I. Eine grundsätzliche Ambivalenz 258
II. Rerum novarum und Demokratisierung 264
III. Antimodernismus und autoritäre Versuchung 266
IV. Die Christdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg 272
Quellen und Literatur 276
Verzeichnis der ursprünglichen Druckorte der Beiträge 299
Personenregister 302

Einleitung
Ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des sowjetkommunistischen Blocks gehören westlicher Pluralismus, parlamentarische Demokratie und europäische Einigung plötzlich nicht mehr zu den gesicherten Besitzständen gesellschaftlicher Ordnung in Deutschland und in Europa. Eine dramatische Entfremdung zwischen politischen und kulturellen Eliten einerseits und Teilen der Mittel- und Unterschichten, die sich vom allgemeinen Fortschritt abgehängt fühlen und auf die dramatischen Umwälzungen der Globalisierung mit Angst und Abschottung reagieren, wird von verantwortungslosen Populisten zur Beförderung der eigenen Macht benutzt und bedroht so den Bestand der freiheitlichen Ordnung ebenso wie die notwendige Solidarität unter den Europäern. Es wird wieder deutlich, dass die parlamentarische Demokratie und die Europäische Union der Verteidigung und der Pflege bedürfen, wenn sie auf Dauer Bestand haben sollen. Aufrufe zum Kampf für eine "wehrhafte und streitbare Demokratie", wie sie der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Abschiedsrede gefordert hat, werden häufiger.
In dieser Situation dürfte es hilfreich sein, den Beitrag, den Katholiken und der Katholizismus zur Durchsetzung der Demokratie in Deutschland und zu seiner Einbettung in die europäische Gemeinschaft geleistet haben, in Erinnerung zu rufen. Der Katholizismus zählte nicht zu den Pionieren der Demokratisierung in Deutschland; dagegen stand der antimoderne Grundimpuls, der zu seiner Entstehung im 19. Jahrhundert führte. Gleichwohl ergaben sich aus den sozialen Bewegungen, mit denen er verknüpft war, und der Oppositionsrolle, die ihm im Zuge des "Kulturkampfs" zuwuchs, zahlreiche Impulse, die die Entwicklung zu einer parlamentarischen Demokratie förderten. Diese konflikthafte (und selten richtig verstandene) Entwicklung mündete nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" in eine Situation, in der der deutsche Katholizismus zu einem der Architekten der Nachkriegsdemokratie und der europäischen Einigung avancierte.
Es ist daher kein Zufall, dass etwa die katholischen deutschen Bischöfe zu den Mahnern gehören, die in der gegenwärtigen Situation mit deutlichen Worten vor einem Verfall von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität warnen. Ebenso wenig sollte es überraschen, dass sich der deutsche Laienkatholizismus bewusst dafür entschieden hat, den 101. Deutschen Katholikentag, der im Mai 2018 in Münster stattfindet, in klarer Abgrenzung von den demokratie- und fremdenfeindlichen Ambitionen der "Alternative für Deutschland" zu einem Forum der "streitbaren Demokratie" werden zu lassen.
Eine historische Darstellung des Wegs der deutschen Katholiken zur Demokratie und ihres Beitrags zu ihrer Durchsetzung dürfte dieses Engagement besser verständlich machen und zugleich zu seiner Bekräftigung beitragen. Sie soll in diesem Band durch eine Auswahl von Beiträgen zur Geschichte des deutschen Katholizismus geleistet werden, die aus unterschiedlichen Anlässen entstanden sind und bislang nur dem jeweils einschlägigen Fachpublikum bekannt waren. Zusammen genommen bieten sie einen umfassenden Überblick über die konflikthafte Entwicklung des Verhältnisses von Katholizismus und Demokratie von der Stigmatisierung zu "Reichsfeinden" im "Kulturkampf" der Bismarckära über den Beitrag zur Parlamentarisierung des Deutschen Reiches im Übergang zur Weimarer Republik bis zur Entstehung der deutschen und europäischen Nachkriegsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Problematische Aspekte dieser Entwicklung wie der kompensatorische Nationalismus des späten Kaiserreichs, die Kapitulation vor der nationalsozialistischen Herausforderung und das sehr begrenzte Engagement im demokratischen Widerstand werden nicht verschwiegen. Es werden aber auch die Pioniere der Demokratisierung innerhalb des Katholizismus deutlich benannt.
Der Band beginnt mit einer Erörterung des ambivalenten Verhältnisses von Katholizismus und Moderne: Auf der einen Seite hat sich die katholische Bewegung, die den Katholizismus im Laufe des 19. Jahrhunderts prägte, gegen die Umsetzung der Ideen der Aufklärung in der französischen Revolution formiert und Prinzipien verfochten, die den "Ideen von 1789" diametral entgegengesetzt waren. Gegen die Idee der Volkssouveränität hielt sie am göttlichen Ursprung der Staatsgewalt fest, ebenso am Anspruch der Kirche auf Gestaltung der öffentlichen Ordnung. Auf der anderen Seite bediente sie sich selbst der Mittel des modernen Rechtsstaates, um die Stellung der Kirche zu befestigen, soweit sie durch die Auflösung der vorrevolutionären Geschlossenheit der Lebensordnungen bedroht war. Mit dem Kampf für die Befreiung der Kirche von staatlicher Bevormundung wirkte sie zugleich an der Erweiterung der Freiheitsrechte des Einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen in einem pluralistischen Staatswesen mit. Darüber hinaus aktivierte der Katholizismus mit der Mobilisierung breiter Bevölkerungskreise eine ganze Reihe von Gruppeninteressen, die über das Interesse an der Restaurierung kirchlicher Freiheiten und Machtpositionen weit hinausgingen. Vielfach wurde er erst dadurch zu einer politischen Kraft, die an der Gestaltung der modernen Staatsordnung mitwirkte. Er trug damit selbst zur gesellschaftlichen Durchsetzung der Moderne bei; und soweit er sich dabei von der ultramontanen Verengung zu lösen vermochte, wurde er auch zu einem Bestandteil der Moderne.
In Deutschland fiel dieser Prozess mit der Konstituierung des modernen Nationalstaats in Form des Kaiserreichs von 1871 zusammen. Das offensive Eintreten einer Minderheit ultamontaner, ganz auf die Macht des Papsttums konzentrierter Katholiken für die Wiederherstellung des Kirchenstaates verleitete Bismarck und seine liberalen Verbündeten, den Kampf um die Einordnung der katholischen Kirche in diesen nationalen Staat mit allen Machtmitteln des Staates zu führen. Bismarcks Kulturkampf war damit, wie im zweiten Beitrag gezeigt wird, in der Hauptsache erfolgreich. Er hatte freilich den Nebeneffekt, dass die große Mehrheit der deutschen Katholiken und die Kirchenführer unter ultramontanen Vorzeichen zusammenrückten und die parlamentarische Vertretung der Ultramontanen, die "Deutsche Zentrumspartei", zu einem Machtfaktor anwuchs, der zu einer festen Größe im politischen System des Kaiserreichs wurde. Damit wurden nicht nur Bismarcks Hoffnungen auf eine Konsolidierung des Obrigkeitsstaates in Frage gestellt; es stellten sich auch den liberalen Ambitionen auf seine Parlamentarisierung neue Schwierigkeiten entgegen. In der "stabilen Krise" des Kaiserreichs, die daraus resultierte, nahm das Zentrum eine Schlüsselrolle ein.
Wozu das Zentrum diese Schlüsselrolle nutzte, war grundsätzlich offen. Wie in dem Beitrag über Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs argumentiert wird, war der Kampf für den Erhalt der traditionalen Freiheiten und Machtpositionen der katholischen Kirche von Anfang an mit unterschiedlichen sozialen und politischen Bestrebungen verbunden: Im Widerstand gegen die aufklärerisch-repressive Kirchenpolitik artikulierten sich zugleich die Vorbehalte traditioneller Eliten gegen den modernen Nationalstaat; katholische Bürger verbanden die Opposition gegen das Staatskirchentum mit dem Kampf für die eigenen Freiheitsrechte im konstitutionellen Staat; Angehörige der traditionellen Unterschichten ließen sich für die katholische Sache gewinnen, weil sie zugleich der Abwehr liberaler Führungs- und Modernisierungsansprüche zu dienen schien; katholische Arbeiter erlebten den Katholizismus als Fluchtpunkt vor den Zumutungen der industriellen Arbeitswelt und möglichen Bundesgenossen bei der Abwehr der Ausbeutung durch liberale Unternehmer. Mit dem Durchbruch zur modernen Industriegesellschaft in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre machten sich diese unterschiedlichen Bestrebungen stärker bemerkbar. Heftige Auseinandersetzungen innerhalb des politischen Katholizismus waren die Folge. Sie mündeten in soziale und ideologische Zerklüftung, die die Zentrumspartei und den verbandlich organisierten Katholizismus zu einem leichten Opfer des totalitären Machtanspruchs der Nationalsozialisten werden ließen.
Das Aufzeigen der inneren Gegensätze im politischen Katholizismus Deutschlands und der geringen Prägekraft seines religiösen Kerns, erstmals in meiner 1984 veröffentlichten Habilitionsschrift, hat für Irritationen gesorgt. In dem Beitrag über Katholische Milieubildung, katholische Subgesellschaft und Zentrumspartei wird mit dem Abstand von über drei Jahrzehnten Bilanz aus den dadurch ausgelösten Diskussionen und weiteren Forschungen gezogen. Es wird bekräftigt, dass die besondere Sozialform des deutschen Katholizismus zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik mehr und anderes war als ein sozialmoralisches Milieu und dass Milieus innerhalb des Katholizismus vielfältiger und entwicklungsfähiger waren, als es das in der Forschung lange Zeit populäre statische Bild einer Segmentierung der deutschen Gesellschaft in vier historische Großmilieus - neben dem katholischen ein ostelbisch-konservatives, ein liberal-bürgerliches und ein sozialistisches - suggeriert. Während die Formierung der Frömmigkeit im ultramontanen Sinn und die Ausgrenzung der Katholiken durch den Kulturkampf milieubildend wirkten, sorgten die Emanzipationsbewegungen eines katholischen Bürgertums, ländlicher Unterschichten und einer katholischen Arbeiterbewegung für eine Ausdifferenzierung dieses Milieus. Diese ging jedoch mit der Zeit über das Milieu als Lebensform hinweg. Politikfähig waren nach der Erfahrung der totalitären Bedrohung nur noch jene Fraktionen des Katholizismus, die schon lange einer Überwindung der Grenzen von Milieu und Subgesellschaft das Wort geredet hatten: die bürgerlichen Modernisierer und die katholische Arbeiterbewegung.
Die Verbindung von religiösem und politischem Engagement wird exemplarisch in einem Beitrag über Georg Friedrich Dasbach vorgeführt. Der Trierer Kaplan mobilisierte 1875 zunächst mit einem Sonntagsblatt und dann auch mit einer Tageszeitung das katholische Volk der Moselregion zur Verteidigung seines Bischofs Matthias Eberhard, der wegen Verweigerung der Anzeigenpflicht bei Besetzung der Pfarrstellen gerade 300 Tage im Gefängnis verbracht hatte. Wie ultramontane Vorkämpfer in anderen Teilen des Reiches nutzte Dasbach das allgemeine und gleiche Wahlrecht, das bei den Wahlen zum Reichstag zum ersten Mal galt, um die "kleinen Leute" zu politisieren und damit eine Waffe im Kampf mit der preußischen Obrigkeit und dem liberalen Gegner zu schmieden. Da er sich dazu auch der weltlichen Interessen seiner Leser und Wähler annehmen musste, entstand auf diese Weise eine mächtige soziale Bewegung und politische Kraft. Dasbach wurde in der Ausübung seiner seelsorglichen Tätigkeit behindert, bezog daraus aber weitere Impulse für den Aufbau eines gewaltigen Presseimperiums, half bei der genossenschaftlichen Organisation von Landwirten und Winzern und regte die erste gewerkschaftliche Organisation von Bergarbeitern im Kohlerevier an der Saar an. Als Abgeordneter im Preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag gehörte er zu den führenden "Zentrumsdemokraten", die die Reichsleitung ebenso das Fürchten lehrten wie die bürgerlichen Honoratioren der Zentrumspartei.
Neben den "roten Kaplänen" wie Dasbach trugen auch die deutschen Sozialkatholiken, die an der Wende zum 20. Jahrhundert hervortraten, zur Formierung einer katholischen Arbeiterbewegung bei. In dem Beitrag, der ihnen gewidmet ist, wird zum einen der habilitierte Philosoph und sozialpolitische Sprecher der Zentrumsfraktion Georg von Hertling vorgestellt, der das soziale Denken der Katholiken aus der Bindung an mittelalterlich-zünftigen Ordnungsvorstellungen löste und einer Kombination von starken Sozialgesetzen und gewerkschaftlicher Organisation der Arbeiter das Wort redete. Zum anderen wird die Entwicklung von katholischen Priestern wie Franz Hitze, August Pieper, Heinrich Brauns und Otto Müller skizziert, die Hertlings Anregungen aufgriffen, weiterentwickelten und vor allem gegen vielfache Widerstände umsetzten - als sozialpolitische Theoretiker, Partner der katholischen Gewerkschaftsführer und hauptamtliche Direktoren des Volksvereins für das katholische Deutschland. Einige dieser Sozialreformer - so Heinrich Brauns - engagierten sich schließlich nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs für eine überkonfessionelle, demokratisch und sozial orientierte Partei-Neugründung, die die Sozialdemokraten als natürliche Verbündete bei der Festigung der deutschen Demokratie betrachtete. Andere hingegen - darunter August Pieper - flüchteten sich angesichts der Schwierigkeiten praktischer Sozialpolitik allerdings wieder in romantische Vorstellungen von ständestaatlicher Ordnung.
Der praktische Beitrag der katholischen Sozialreformer zur Formierung einer katholischen Arbeiterbewegung bestand vor allem in der Entwicklung des Volksvereins zu einer Massenorganisation, die hauptsächlich von sozial und politisch engagierten Arbeitern getragen wurde. Ursprünglich als "Vereinigung zur Verteidigung der christlichen Wahrheit" geplant, nutzte sein langjähriger Generaldirektor August Pieper (ab 1892) den Verein zur Bildung einer "soziale Fortbildungsschule für das gesamte katholische Deutschland". Sein Bildungsangebot an Schriften, Abendveranstaltungen und mehrwöchigen "Volkswirtschaftlichen Kursen" wurde vor allem von sozialpolitisch engagierten Arbeitern wahrgenommen; aus ihren Reihen rekrutierten sich die Funktionäre und Führer der katholischen Arbeitervereine und der Christlichen Gewerkschaften. Katholische Arbeiter unterstützten dieses Bildungswerk mit ihren Mitgliedsbeiträgen; so kam der Volksverein nach schwierigen Anfängen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs auf über 800.000 Mitglieder - nur ein Fünftel weniger, als die Sozialdemokratische Partei für sich gewinnen konnte.
Die Mobilisierung katholischer Arbeiter für die Idee der Sozialreform und das Engagement in den Christlichen Gewerkschaften wäre vermutlich noch erfolgreicher gewesen, wenn sie nicht auf das Misstrauen und die Feindschaft kirchlicher Kreise gestoßen wäre. Der Beitrag über Bischof Karl Joseph Schulte von Paderborn und der Streit um die Christlichen Gewerkschaften zeigt, wie dieses Misstrauen zu Bestrebungen führte, die Beteiligung von Katholiken an interkonfessionellen Gewerkschaften zu verbieten, und diese Bestrebungen teilweise Erfolg hatten: Mit der Enzyklika Singulari quadam vom September 1912 wurde den katholischen Arbeitern die Zusammenarbeit mit Nichtkatholiken in den Christlichen Gewerkschaften nur unter Vorbehalten und nur vorläufig gestattet. Nur die geschickte Intervention des Paderborner Bischofs sorgte dafür, dass diese Misstrauenskundgebung nicht zum Bruch der Christlichen Gewerkschaften mit dem kirchlich gebundenen Katholizismus führte. Der Beitrag beleuchtet das Selbstbewusstsein, das die katholischen Arbeiterführer unterdessen entwickelt hatten, aber auch die Weltfremdheit und das taktische Gerangel im deutschen Episkopat, die zwei Jahrzehnte später in der Konfrontation mit dem NS-Regime noch weit verheerendere Folgen haben sollten.
Was folgte aus diesen Spannungen und Entwicklungen für die Durchsetzung der Demokratie in Deutschland? Das Eintreten für die "bürgerliche Freiheit aller Angehörigen des Reiches", die Wahrung der Rechte der Einzelstaaten, Kommunen und Provinzen sowie die Ausdehnung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts auf alle Bundesstaaten (auch auf das im Reich dominierende Preußen) gehörten, so wird in dem jetzt folgenden Längsschnitt argumentiert, unter den Bedingungen des Kulturkampfs zur programmatischen Grundausstattung der Zentrumspartei. Mit dem Abklingen des Kulturkampfs bahnte sich allerdings eine konservative Reorientierung des Zentrums an. Sie wurde durch den Erfolg der "Zentrumsdemokraten" gestoppt, die damit eine Einschränkung der Reichstagsrechte und eine Abkehr vom gleichen Wahlrecht im Reich verhindern konnten. Ein Kompromiss mit der Reichsleitung im Zeichen imperialistischer "Weltpolitik" wurde von ihnen 1906 aufgekündigt. Es folgte nach einer Phase strategischer Offenheit eine Konstellation, die auf die Parlamentarisierung des Reiches hinauslief, seine Demokratisierung (insbesondere durch die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen) aber in ungewisse Fernen verschob. Unter den Belastungen des Weltkrieges war diese Konstellation freilich nicht länger tragfähig. Matthias Erzberger konnte jetzt mit der "Friedensresolution" vom Juli 1917 den Übergang zur parlamentarischen Demokratie anbahnen. Nach der Novemberrevolution arbeitete das Zentrum konstruktiv an der Etablierung der Weimarer Republik mit. Die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie, die zu ihrer Konsolidierung notwendig war, wurde jedoch schon im Spätherbst 1923 wieder aufgegeben; für eine prinzipielle Verteidigung der republikanischen Staatsform engagierte sich nur eine Minderheit der Partei. Mit der Wahl des Prälaten Ludwig Kaas zum Parteivorsitzenden im Dezember 1928 rückten Politiker in Schlüsselpositionen ein, die auf eine autoritäre Umgestaltung der Republik hinarbeiteten. Dass sie dabei gegenüber der Hitler-Partei den Kürzeren zogen, war angesichts der inneren Spaltungen ihrer Formation nur konsequent. Es bedurfte der Erfahrung der Konsequenzen dieser Niederlage, um den deutschen Katholizismus definitiv auf einen demokratischen Kurs zu verpflichten.
Nach dem Überblick über diese wechselvolle Geschichte der politischen Interventionen des Zentrums in der Demokratisierungsfrage schildert das Kapitel Zentrum und Kolonialpolitik den Wendepunkt von 1906 in exemplarischer Verdichtung. Es zeigt einen jugendlichen Matthias Erzberger, der, auf die Erbitterung der "kleinen Leute" gestützt, die skandalösen Verhältnisse in den deutschen Kolonien gnadenlos offenlegte und damit das prekäre Machtgleichgewicht zwischen der bürgerlichen Zentrumsführung dieser Zeit und der Reichsleitung zum Einsturz brachte. Antikatholische Vorurteile der Liberalen hinderten sie, die damit gegebenen Chancen zur Demokratisierung des Reiches zu nutzen, und brachten das Zentrum selbst immer mehr auf das Gleis der wilhelminischen "Weltpolitik". Mehr als ein vorübergehendes Stagnieren im Parlamentarisierungsprozess war damit aber nicht erreicht.
Von den Halbheiten der Parlamentarisierung und Demokratisierung des Kaiserreichs führt ein direkter Weg zum Untergang nicht nur der Weimarer Republik sondern auch des politischen Katholizismus. In dem Beitrag Das Reichskonkordat und der Untergang des politischen Katholizismus wird eine Bilanz der Kontroverse gezogen, die der katholische Historiker Konrad Repgen Ende der 1970er Jahre mit der Kritik an einer Darstellung des evangelischen Kirchenhistorikers Klaus Scholder entfacht hat. Sie mündet in die Feststellung, dass Hitlers Angebot eines Reichskonkordats den Widerstand des Zentrumsvorsitzenden Ludwig Kaas gegen eine Auflösung der Partei schwächte und bei der Entscheidung der Zentrumsfraktion für das Ermächtigungsgesetz neben Drohungen und Belästigungen auch Verlockungen eine Rolle gespielt haben. Nachdem die Wahl von Kaas zum Vorsitzenden den Konsens, der die Zentrumspartei zusammenhielt, schon auf den kirchenpolitischen Kern reduziert hatte, fiel dieser mit dem Angebot des Reichskonkordats ebenfalls weg. Da blieb nichts mehr, was den Kampf für die Fortexistenz der Partei hätte rechtfertigen können - jedenfalls dann nicht, wenn für diesen Kampf mit beruflichen und gesellschaftlichen Nachteilen oder sogar mit Verfolgung gezahlt werden musste.
Von Katholischer Kirche und Widerstand im "Dritten Reich" ist in diesem Zusammenhang zu berichten, dass Widerstand im Sinne einer Verweigerung verbrecherischer Befehle oder eines aktiven Hinwirkens auf eine Beseitigung des Regimes nur von einzelnen Katholiken, Laien wie Kleriker, geleistet wurde. Wegen der Risiken für Leib und Leben, die damit verbunden waren, durfte die Kirche ihren Gläubigen die Verantwortung für die Entscheidung zum Widerstand auch nicht abnehmen. Allerdings hätte die mobilisierende Kraft kirchlicher Verlautbarungen durchaus größer sein können, wenn die deutschen Bischöfe denn den Unrechtscharakter des NS-Regimes deutlicher und früher erkannt hätten und illusionäre Hoffnungen auf Sicherung der kirchlichen Belange nicht manche von ihnen bis zuletzt von energischeren Stellungnahmen abgehalten hätten. Die Auseinandersetzungen innerhalb der Bischofskonferenz um die Deutlichkeit öffentlicher Stellungnahmen offenbaren einmal mehr ein hohes Maß an Weltfremdheit und Kleinmut.
Sensibilität und Mut, die bei einzelnen und letztlich nicht ganz wenigen Vertretern des Katholizismus zu finden waren, werden am Beispiel von Nikolaus Groß vorgeführt, der als Mitverschwörer des 20. Juli 1944 am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde. Nikolaus Groß gehörte zu den katholischen Bergleuten des Ruhrgebiets, die die "Galopp-Universität" des Volksvereins absolvierten und auf dieser Grundlage hauptamtliche Funktionen in der katholischen Arbeiterbewegung übernahmen. Von 1927 an leitete er die Redaktion der Westdeutschen Arbeiterzeitung, des Organs der Katholischen Arbeiterbewegung Westdeutschlands. Politisch trat er für einen "demokratischen Volksstaat" ein, und dieses Engagement führte ihn von 1935 an zusammen mit den anderen Führungskräften der KAB in den Widerstand. Als sich die Führer des konservativen Widerstands 1943 auf die Notwendigkeit eines baldigen Staatsstreichs verständigten, trugen die KAB-Führer diese Entscheidung nicht nur mit. Sie beteiligten sich aktiv an der Organisation des Umsturzregimes und an der Gewinnung von zuverlässigen Personen, deren Mitarbeit für die Etablierung des neuen Regimes unabdingbar war. Das Risiko, dieses Engagement für "für die Freiheit und Würde seines Volkes" (wie er es nach seiner Verhaftung formulierte) mit dem Tod bezahlen zu müssen, nahm Groß in vollem Bewusstsein auf sich.
Abschließend wird der Blick auf das Verhältnis des deutschen Katholizismus zur Demokratie unter dem Titel Katholizismus, Pluralismus und die moderne Demokratie noch einmal zusammengefasst und in Ausführungen zur Situation in den europäischen Nachbarländern eingebettet. Der ambivalente Charakter des Katholizismus im Hinblick auf die demokratische Ordnung tritt damit noch deutlicher hervor. Die Angst vor der Moderne ließ die kirchlichen Autoritäten wiederholt intervenieren, wenn sich Gruppierungen des sozialen oder politischen Katholizismus allzu stark für die Sicherung von Freiheitsrechten und Emanzipation engagierten. Die Vorstellungen von einer korporatistischen Neuordnung des Staates, wie sie etwa in der Enzyklika Quadragesima anno von 1931 sichtbar wurden, begünstigten die Abkehr von der republikanischen Staatsform. Die fatalen Konsequenzen dieser Entscheidungen führten dann aber nach 1945 zu einem umso stärkeren Engagement für die parlamentarische Demokratie. Es wird in der Zusammenschau deutlich, dass dieses heute mehr denn je gebraucht wird.
Die vierzehn Beiträge können je nach Interesse unabhängig voneinander gelesen werden. Um den Gang der Forschung nachvollziehen zu können, sind sie im Wesentlichen unverändert gelassen worden. Es wurden lediglich Standardisierungen in der Präsentation vorgenommen; und bei Beiträgen, die schon vor längerer Zeit publiziert wurden, wurden Hinweise auf die seither erschienene Literatur hinzugefügt. Der Leser kann sich damit jeweils rasch über den aktuellen Forschungsstand informieren. Der Band lässt sich aber auch als eine fortlaufende Erzählung des Beitrags des Katholizismus zur Entstehung der deutschen Demokratie lesen - mit einigen unvermeidlichen Wiederholungen, aber in der Hauptsache doch mit unterschiedlichen Blickrichtungen, Schwerpunktsetzungen und exemplarischen Verdichtungen, die insgesamt ein umfassendes Bild ergeben. Der deutsche Katholizismus, soviel dürfte dabei deutlich werden, ist voller unterschiedlicher Facetten, aber wenn man die Geschichte des deutschen Nationalstaats und der deutschen Demokratie verstehen will, muss man sich die Mühe machen, sie im Einzelnen auszuleuchten.
Ich danke dem Centrum für Religion und Moderne der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und insbesondere den Herausgebern seiner Schriftenreihe Religion und Moderne für ihre Unterstützung bei der Realisierung dieses Buches. Ebenso danke ich Jürgen Hotz vom Campus-Verlag, der sich auch dieses Projekts mit Sorgfalt und Weitblick angenommen hat.
1. Katholizismus und Moderne - Überlegungen zu einem dialektischen Verhältnis
I. Ultramontane Abwehr
Im Verständnis einer aufgeklärten Geschichtswissenschaft wird der Katholizismus in der Regel zu den Kräften gerechnet, die dem Projekt der Moderne entgegenstanden und gegen die sich die Modernisierer erst einmal durchsetzen mussten. Daran ist so viel richtig, dass sich die katholische Bewegung, die den Katholizismus im Laufe des 19. Jahrhunderts prägte, gegen die Umsetzung der Ideen der Aufklärung in der französischen Revolution formierte und Prinzipien verfocht, die den "Ideen von 1789" diametral entgegengesetzt waren. Gegen die Betonung der menschlichen Vernunft und des Fortschritts propagierte sie die Verbindlichkeit der göttlichen Offenbarung und der Tradition des kirchlichen Lehramts. Gegen die Idee der Volkssouveränität hielt sie am göttlichen Ursprung der Staatsgewalt fest und am Anspruch der Kirche auf Gestaltung der öffentlichen Ordnung. Gegen die Tendenzen zur Herausbildung einer modernen Industriegesellschaft predigte sie die Einbindung in eine zeitlos harmonische ständestaatliche Ordnung. Gegen die Explosion der modernen Wissenschaften setzte sie auf die Weisheit der mittelalterlichen Scholastik. Und gegen den modernen Nationalismus entwickelte sie den
Ultramontanismus, die absolute Bindung an den Papst in Rom.
Die antimoderne Ausrichtung des Katholizismus ist immer wieder durch päpstliche Erklärungen bestätigt und bekräftigt worden. Das begann mit Pius VI., der sich nicht damit begnügte, die Zivilkonstitution der französischen Nationalversammlung zu verurteilen, weil sie die Kirche, gallikanischer Tradition entsprechend, ganz als Staatsinstitution behandelte, sondern ausdrücklich die Erklärung der Menschenrechte als mit der katholischen Lehre unvereinbar ablehnte: unvereinbar im Hinblick auf den Ursprung der Staatsgewalt, auf die Religionsfreiheit und auf die gesellschaftliche Ungleichheit. Und es erreichte seinen Höhepunkt mit der prägnanten Verurteilung der liberalen Ideen, die Pius IX. 1864 mit der Enzyklika Quanta cura und dem beigefügten Syllabus errorum vorlegte: Sie richtete sich ausdrücklich gegen die Vorstellung, die Gesellschaft könne ohne Rücksicht auf die Religion und ohne Unterschied zwischen den verschiedenen Religionen organisiert werden, und verurteilte dann Volkssouveränität, Glaubens- und Kultusfreiheit, Pressefreiheit, Säkularisierung der gesellschaftlichen Institutionen und Trennung von Kirche und Staat als Ausdruck dieses Irrglaubens, ebenso wie Rationalismus, Ökonomismus und Sozialismus.
Die globale Absage des Katholizismus an die Moderne war kein Zufall und auch nicht nur die Folge unbedachter Eskalation der Gegensätze kirchenpolitischer Auseinandersetzungen. Die Aufklärung stellte einen Angriff auf den Monopolanspruch der katholischen Weltdeutung dar, und die Revolution bedrohte die materiellen Grundlagen der kirchlichen Machtstellung, besonders seit sie sich zum Zugriff auf die Kirchengüter und die geistlichen Fürstentümer entschlossen hatte. Da war es ganz unwahrscheinlich, dass es der Kirche gelingen würde, sich rechtzeitig von den traditionalen Verhältnissen zu lösen und die christlich gestaltbaren, zum Teil sogar christlich fundierten Momente des Umbruchs zur Moderne zu erkennen. Viel näher lag es, sich in der Abwehr von Aufklärung und Revolution mit all jenen Kräften zu verbünden, die gegen die Entwicklung zur Moderne opponierten, und in idealistischer Verklärung der vorrevolutionären Verhältnisse auf die Schaffung eines neuen christlichen Weltreiches zu hoffen. In den innerkirchlichen Auseinandersetzungen, die auf die Erschütterung durch Revolution und Säkularisation folgten, hatte der Ultramontanismus darum von vorneherein die besseren Karten; und auch bei der Formierung des Katholizismus im gesellschaftlichen und politischen Raum stand er bald im Vordergrund, während Ansätze zur Bildung eines liberalen Katholizismus immer Episoden blieben.
Die Frontstellung gegen die Moderne wurde noch dadurch zusätzlich gefördert, dass der Papst als Herrscher über den Kirchenstaat selbst Teil der alten Ordnung war und der Klerus auch in den übrigen italienischen Staaten über starke Machtpositionen verfügte. Das legte es allein schon aus Gründen des Machterhalts nahe, für die Restauration der alten Ordnung zu kämpfen, förderte den Glauben an die Durchsetzbarkeit der theoretischen Visionen und bestärkte die liberale Bewegung in ihrer Neigung, den Katholizismus pauschal mit der Reaktion zu identifizieren und entsprechend zu bekämpfen. In der Tat nahm der Kirchenstaat nach seiner Restauration 1815 bald die Züge eines christlichen Polizeistaates an, der modernem rechtsstaatlichem Empfinden Hohn sprach, und die Päpste wandten sich nach 1848 wie nach 1870 dem Bündnis mit den konservativen Mächten zu, um ihre Herrschaft über den Kirchenstaat wiederherzustellen. Beides stärkte die ultramontanen Positionen und zog denjenigen, die an einem Ausgleich der Kirche mit der modernen Welt arbeiteten, den Boden unter den Füßen weg.
II. Bewegung in der Moderne
Dennoch - dies muss nun gegen eine Auffassung betont werden, die immer noch allzu sehr von dem Kampf geprägt ist, den die Kräfte der Aufklärung gegen die katholische Kirche zu führen hatten - lässt sich der Katholizismus auch in seiner ultramontanen Ausprägung nicht ohne Einschränkungen als eine Bewegung gegen die Moderne charakterisieren. Dagegen spricht zunächst, dass er, aus den Initiativen vieler Einzelner und Gruppen, nicht etwa aus Weisungen der kirchlichen Hierarchie hervorgegangen, sich selbst der Mittel des modernen Rechtsstaates bediente, um die Stellung der Kirche zu befestigen, soweit sie durch die Auflösung der vorrevolutionären Geschlossenheit der Lebensordnungen bedroht war. Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Parlamente und ihre Mitspracherechte wurden von den Anwälten der katholischen Bewegung dazu genutzt, das katholische Volk für die Anliegen der Kirche und des Papstes zu mobilisieren und die Kirche als gesellschaftliche Kraft in der nachrevolutionären Ordnung zu verankern. Der Katholizismus stellte damit selbst eine moderne Bewegung dar, dessen Existenz an die Voraussetzung der Errungenschaften der Revolution und der Säkularisierung gebunden war - eine moderne Bewegung gegen die Moderne sozusagen, die aber allein schon aus Eigeninteresse keinen Totalangriff gegen die Moderne führen konnte, vielmehr selbst Elemente der Moderne in sich trug und, indem sie die verlorengegangenen feudalen Stützen durch gesellschaftliche und politische Mobilisierung der Katholiken ersetzte, die Kirche partiell modernisierte.
Darüber hinaus verfocht der ultramontane Katholizismus selbst liberale Prinzipien, wenn und soweit die Erben der Aufklärung diese vergaßen. Das galt insbesondere für ihre Amalgamierung mit der staatskirchlichen Tradition, aber auch für die aus einem holistischen Volksbegriff resultierende Neigung zur Entwicklung moderner Staatsomnipotenz und für die Verengung der liberalen Bewegung auf die Förderung bürgerlicher Klasseninteressen. Die katholische Kritik an diesen Entwicklungen fußte gewiss nicht auf der bewussten Übernahme liberaler Theoreme; sie gründete vielmehr teils in der Überzeugung von der Unveräußerlichkeit vorstaatlicher Rechte und stellte zum Teil auch nur eine opportunistische Ausnützung der Schwächen der liberalen Gegenspieler dar. Erst recht weitete sie sich nicht zu einer Infragestellung der eigenen Weltordnungsansprüche aus, was ihre Glaubwürdigkeit natürlich von vorneherein stark beeinträchtigte. Dennoch wirkte der Katholizismus mit dieser Kritik bisweilen als liberales Korrektiv, das mit dem Kampf für die Befreiung der Kirche von staatlicher Bevormundung zugleich an der Erweiterung der Freiheitsrechte des Einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen in einem pluralistischen Staatswesen mitwirkte.
Drittens aktivierte der Katholizismus mit der Mobilisierung breiter Bevölkerungskreise eine ganze Reihe von Gruppeninteressen, die über das Interesse an der Restaurierung kirchlicher Freiheiten und Machtpositionen weit hinausgingen, der Bewegung aber vielfach überhaupt erst die nötige politische Virulenz verschafften. So artikulierten sich im Widerstand gegen die aufklärerisch-repressive Kirchenpolitik zugleich die Vorbehalte traditioneller Eliten gegen den modernen Nationalstaat; katholische Bürger verbanden die Opposition gegen das Staatskirchentum mit dem Kampf für die eigenen Freiheitsrechte im konstitutionellen Staat; Angehörige der traditionellen Unterschichten ließen sich für die katholische Sache gewinnen, weil sie zugleich der Abwehr liberaler Führungs- und Modernisierungsansprüche zu dienen schien; katholische Arbeiter erlebten den Katholizismus als Fluchtpunkt vor den Zumutungen der industriellen Arbeitswelt und möglichen Bundesgenossen bei der Abwehr der Ausbeutung durch liberale Unternehmer. In Deutschland, wo sich der Katholizismus bekanntlich zu einer besonders schlagkräftigen Partei verdichtete, kam zu diesen durchaus unterschiedlichen sozialen Interessen dann in der Reichsgründungsära auch noch der latente Protest gegen die meist protestantischen Führungsschichten in Bürokratie, Kultur und Wirtschaft, die Abneigung süddeutscher und welfischer Kräfte gegen die preußische Hegemonie und die Opposition von Elsässern, Lothringern und Polen gegen den deutschen Nationalstaat überhaupt. Mit all diesen Momenten entwickelte sich der Katholizismus zu einer politischen Kraft, die zwar in Selbstbindung an den katholischen Glauben, aber in wachsender Unabhängigkeit von Klerus und kirchlicher Hierarchie wirkte und damit selbstverantwortetes politisches Handeln ganz im Sinne der Aufklärung ermöglichte.
Die modernen und modernisierenden Elemente innerhalb des Katholizismus mussten mit der Zeit umso stärker zur Geltung kommen, als die erklärten Hauptziele des Ultramontanismus illusionär waren. Wissenschaftlicher Fortschritt, Säkularisierung und Industrialisierung waren nicht aufzuhalten; und die verschiedenen Emanzipationsbewegungen, die sich daraus ergaben, konnten wohl für eine gewisse Zeit unterdrückt, aber letztlich nicht mehr rückgängig gemacht oder aufgelöst werden. Eine Rückkehr zur christlichen Fundierung der weltlichen Ordnung war darum ebenso wenig zu erreichen wie eine Verwirklichung der ständestaatlichen Theoreme, die man aus einem idealisierten Mittelalter-Bild abgeleitet hatte. Und nach 1870 konnte auch nicht auf Dauer verborgen bleiben, dass in der Welt der Nationalstaaten und des Imperialismus kein Platz mehr für die Wiederherstellung des Kirchenstaates war. Erreichbar waren allenfalls die Sicherung der Freiheit der Kirche als einer Gruppe unter vielen und die Unabhängigkeit ihres geistlichen Oberhaupts; christliches Wirken in diese plurale Welt hinein war nur möglich, wenn und soweit sich die Kirche den nachrevolutionären Realitäten stellte.
Entsprechend ließ der antiultramontane Eifer der Kirche mit der Zeit tatsächlich nach. In gewisser Weise war das schon beim Ersten Vatikanischen Konzil zu spüren: Die Verkündigung des Universalepiskopats und der Unfehlbarkeit des Papstes stellte zwar einen Triumph der Ultramontanen dar und lag auch ganz in der Konsequenz ultramontanen Denkens; indem sie dem Papsttum die volle Kontrolle über den Gebrauch der bürgerlichen Freiheiten durch die Katholiken sicherte, rüstete sie die Kirche aber gleichzeitig für eine Situation, in der die traditionellen Machtmittel feudaler Prägung nicht mehr zur Verfügung standen. Von den materiellen Machtmitteln der alten Kirche, die noch kurz zuvor im Syllabus eingeklagt worden waren, war nicht mehr die Rede; nur noch von der geistlichen Autorität des Papstes. 1885 ließ Leo XIII. dann in der Enzyklika Immortale Dei eine (wenn auch noch sehr vorsichtige) Distanzierung vom monarchischen Legalitätsprinzip erkennen; gleichzeitig hielt er französische Katholiken von der Bildung einer offen gegenrevolutionären Partei ab und drängte sie zur Verständigung, zum "Ralliement" mit der Republik. Sechs Jahre später, 1891, rückte er in der Enzyklika Rerum novarum auch von der Fixierung auf ein ständisches Gesellschaftsverständnis ab. Und nach der Jahrhundertwende folgte, nach vergeblichen Anläufen schon in den 1880er Jahren, die schrittweise Aufhebung des "Non expedit", das die italienischen Katholiken bis dahin von einer Beteiligung an den allgemeinen politischen Wahlen der Republik abgehalten hatte.
Die Abkehr der Kirche von den ultramontanen Weltordnungsvorstellungen ging allerdings nur sehr zögernd vonstatten. Ihre Amtsträger blieben noch lange von der Sehnsucht nach Wiederherstellung vorrevolutionärer Zustände geprägt, beobachteten die moderne Welt mit Misstrauen und zogen sich eher auf den innerkirchlichen Bereich zurück als neue Ordnungsvorstellungen zu entwickeln, die den Realitäten der Zeit angemessen waren. Auf den Diplomaten Leo XIII., der in seinen Anfangsjahren gehofft hatte, die äußere Machtstellung der Kirche durch eine Verständigung mit den konservativen Regierungen stärken zu können, folgte 1903 der Seelsorger Pius X., der sich unter Vernachlässigung der politischen Ambitionen auf innere Reformen der Kirche konzentrierte. Getragen wurde er dabei von einer breiten religiösen Erneuerungsbewegung, die der religiösen Praxis mit Herz-Jesu-Verehrung, marianischer Frömmigkeit und Eucharistie-Kundgebungen ein zugleich individualisierendes und weltabgewandtes Gepräge gab. Ansätze zur Rehistorisierung theologischen Denkens, wie sie von einer breiten und vielfältigen Strömung "reformkatholischer" Theologen seit Mitte der 1890er Jahre entwickelt wurden, zerbrachen an der Intoleranz der Masse der Gläubigen und der Kirchenleitung, die im traditionellen Selbstverständnis verunsichert waren, aber gerade darum fundamentalistisch am Buchstaben der Dogmen festhielten. Immer rigidere Maßnahmen gegen eine "modernistische" Irrlehre, die es in der vermuteten Geschlossenheit gar nicht gab, wirkten als Barrieren gegen eine aktive Auseinandersetzung des Katholizismus mit den Problemen der modernen Welt.
Für den Katholizismus ergab sich daraus, dass er bei seinen Versuchen, die Welt zu gestalten, von der Kirche entweder allein gelassen oder aber, wenn er sich dabei allzu weit von den traditionellen Vorstellungen entfernte, behindert wurde. Nachdem der ultramontane Traum im Wesentlichen nur noch identitätsstiftend wirken konnte und praktikable Neuorientierungen von kirchlicher Seite ausblieben, konnten die außerkirchlichen Impulse, die durch die Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten in den Katholizismus hineinwirkten, eine starke Prägekraft entfalten. Entsprechend entfremdeten sich Kirche und Katholizismus; und wenn katholische Formationen dann allzu moderne Züge annahmen, intervenierte das Papsttum.
Das bekamen etwa die italienischen und französischen Christdemokraten zu spüren, denen politische Aktivitäten im Sinne einer Verwirklichung der Demokratie verboten wurden, aber auch die bürgerlichen Führer des Zentrums im wilhelminischen Deutschland, deren Pochen auf politischer Selbständigkeit in Rom mit unverhohlenem Misstrauen beobachtet wurde, und die katholischen Arbeiter, die im sogenannten Gewerkschaftsstreit nur knapp an einem Verbot der interkonfessionellen Gewerkschaftsbewegung vorbei kamen. Allerdings waren diese Interventionen nur halbherzig; die Sehnsucht nach vorrevolutionären Zuständen verdichtete sich nicht mehr zu einem offensiv gegenrevolutionären Kurs. Der Rückzug der Kirche von den politischen Ambitionen bedeutete daher im Übrigen, dass sich der Katholizismus je nach den politischen und sozialen Gegebenheiten in den einzelnen Ländern und Regionen ganz unterschiedlich entwickelte und katholische Formationen oft scharfe innere Spannungen aufwiesen - besonders dann, wenn der äußere Druck nachließ, der aus dem Doppelangriff aufklärerischer und obrigkeitsstaatlicher Kräfte auf traditionale Freiheiten und Machtpositionen der Kirche resultierte.
III. Der deutsche Katholizismus
In Deutschland lassen sich nach dem Abklingen des Kulturkampfs drei sozial unterschiedlich fundierte Bewegungen innerhalb des Katholizismus unterscheiden, die jeweils eigenständig auf die Politik des Zentrums einwirkten und so den Kurs des Katholizismus bestimmten: eine bürgerliche Emanzipationsbewegung, eine populistisch gefärbte Protestbewegung ländlicher und kleinbürgerlicher Unterschichten und eine Arbeiterbewegung, die insbesondere dort reüssierte, wo Mischformen traditioneller und industrieller Lebensweisen erhalten blieben.
Die bürgerliche Bewegung im deutschen Katholizismus geht in Ansätzen bis in die 1840er Jahre zurück. Ursprünglich stützte sie sich auf einen vergleichsweise kleinen Zirkel katholischer Akademiker, höherer Beamter und Unternehmer; ihr politisches Gewicht bezog sie zunächst aus der Reputation, die die bürgerlichen Honoratioren, meist durch die Vermittlung des örtlichen Klerus, bei den unterbürgerlichen Wählermassen besaßen. Mit der fortschreitenden Industrialisierung, insbesondere im Zuge der 1896 einsetzenden neuen Hochkonjunkturperiode, weitete sich dieser Zirkel quantitativ beträchtlich aus: Katholiken drangen vermehrt in die Bereiche der Großindustrie, des Handels und des Bankwesens ein und entfalteten dort beträchtliche Aktivitäten; ebenso profitierten sie von der Ausweitung der öffentlichen Verwaltung, der Wohlfahrtspflege und des Bildungswesens und stellten sie einen erheblichen Anteil an der neuen Schicht der technischen Intelligenz. Gleichzeitig rückten sie gesellschaftlich immer deutlicher zu einer Gruppe zusammen, entwickelten sie ein stärkeres und stärker an den Werten des modernen Industriestaates orientiertes Selbstbewusstsein als bisher und traten sie auch politisch deutlicher als bisher als Gruppe in Erscheinung.
Aus der eher vorsichtigen Distanz, die die bürgerlichen Führer der Gründungsära gegenüber ständestaatlichen Utopien hatten erkennen lassen, entwickelte sich jetzt eine offensive Kritik an der Rückwärtsgewandtheit des bisherigen Katholizismus und ein lautstarkes Bekenntnis zu den Errungenschaften des modernen Industriestaates. Die Wirtschafts- und Sozialordnung des modernen Kapitalismus wurde nicht mehr, wie bislang vielfach in katholischen Kreisen üblich, prinzipiell in Frage gestellt oder gar verurteilt, sondern ganz im bürgerlichen Sinne als Grundlage allgemeinen materiellen Fortschritts begrüßt; Wissenschaft und Technik wurden nicht länger als bedrohlich für die traditionellen Lebensverhältnisse empfunden, sondern als Grundlagen moderner Existenzbehauptung begierig aufgegriffen; Vereine, Parteien und Parlamente galten nicht mehr als Hindernisse auf dem Weg zu einem organischen Staatsaufbau, sondern als selbstverständliche Mittel, um die "Rechte des Volkes" zur Geltung zu bringen; die Auseinandersetzung mit der geistigen Entwicklung der Zeit erschöpfte sich nicht länger in trotziger Apologetik, sondern ging auf weite Strecken in eine unbefangene Lernbereitschaft über und mündete vielfach in unkritische Überanpassung.
Die neue Hochschätzung für die Werte einer bürgerlich dominierten Industriekultur ließ die - vielfach historisch bedingte - "Rückständigkeit" des katholischen Volksteils in der Mitwirkung am wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt und in der Besetzung der Führungspositionen in Staat, Wirtschaft und Kultur umso schmerzlicher ins Bewusstsein treten: Sie nagte am Selbstwertgefühl der katholischen Bürger, behinderte sie in ihren Entfaltungsmöglichkeiten und ließ langfristig die Zukunft des politischen Katholizismus überhaupt fragwürdig erscheinen. Entsprechend erscholl nun allenthalben der Ruf nach mehr katholischen Akademikern, mehr katholischen Gelehrten, mehr katholischen Kommerzienräten und stärkerer Vertretung der Katholiken in den oberen Rängen der Bürokratie. In zahlreichen Artikeln und Versammlungen wurde über die Ursachen der Rückständigkeit räsoniert und an den Bildungseifer der Katholiken appelliert; zugleich wurde auf allen Ebenen von den staatlichen Stellen eine "paritätische" Berücksichtigung der Katholiken bei der Besetzung öffentlicher Ämter gefordert und allgemein nach Beweisen für die Gleichwertigkeit der katholischen Bürger im Deutschen Reich gesucht.
Für diesen bürgerlichen Aufbruch hatte zu großen Teilen Ludwig Windthorst den Boden bereitet, indem er konservativen Utopien immer wieder Absagen erteilt und konsequent für die Verwirklichung rechtsstaatlicher Prinzipien gestritten hatte. Auf dieser Grundlage gründeten Julius Bachem, Hermann Cardauns, Georg von Hertling und andere die "Görres-Gemeinschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland"; und
Julius Bachem war es auch, der im Frühjahr 1906 in seinem vieldiskutierten Artikel "Wir müssen aus dem Turm heraus!" in den Historisch-Politischen Blättern das Programm dieses bürgerlichen Aufbruchs noch einmal prägnant zusammenfasste. Ebenso spielten Franz Hitze und August Pieper an der Spitze des Volksvereins eine wichtige Rolle, indem sie die Bewältigung sozialer Probleme vom Boden der kapitalistischen Wirklichkeit aus propagierten und betrieben. Eher am Rande, aber gleichwohl symptomatisch wirkten die "reformkatholischen" Theologen, so Franz Xaver Kraus, der in seinen 1896-1900 anonym erschienenen Spectator-Briefen heftige Attacken gegen den Ultramontanismus ritt, und Hermann Schell, der 1897 mit der Forderung nach der Verbindung der Kirche mit moderner Wissenschaft und nationaler Kultur Aufsehen erregte; "Der Katholizismus als Prinzip des Fortschritts" hieß der provozierende Titel seiner Programmschrift. Ergänzt wurden ihre Bestrebungen von Männern wie Carl Muth, der 1898 mit einer Kampfansage an die moralische Bevormundung des katholischen Literaturbetriebs antrat, und Martin Spahn, der als historischer Publizist für eine Versöhnung der Katholiken mit dem preußisch-kleindeutschen Geschichtsbild wirkte. Muths 1903 gegründetes Organ Hochland, in dem auch Spahn regelmäßig publizierte, entwickelte sich rasch zum wichtigsten geistigen Forum der Bewegung.
Natürlich agierte die bürgerliche Aufbruchsbewegung nicht in jeder Hinsicht einheitlich. So hielten sich die politischen Führer in der Regel von den theologischen Erneuerungsbemühungen bewusst fern, um ihr ohnehin schwieriges Verhältnis zu den kirchlichen Autoritäten nicht noch zusätzlich zu belasten. Die Identifikation mit dem neudeutschen Nationalismus ging unterschiedlich weit, ebenso die Bereitschaft zur Übernahme liberaler Ordnungsvorstellungen; antiliberale Momente der ideologischen Tradition und Imperative der aktuellen bürgerlichen Situation vermengten sich in den unterschiedlichsten Kombinationen. Ein Teil war gewiss bereit, sich um der individuellen Karriere willen den Vorstellungen des Regierungslagers anzupassen, während andere - und hier insbesondere die politisch erfahrenen Führungskräfte der Zentrumspartei - sehr wohl wussten, dass der Aufstieg der katholischen Bürger im Reich auf Dauer nur gesichert werden konnte, wenn sich das Zentrum als eigenständiger Machtfaktor behauptete. Aber alle trafen sich in dem Bestreben, sich in der bestehenden bürgerlichen Ordnung, beziehungsweise in dem, was von einer solchen Ordnung vorhanden war, einzurichten; zeitweilig wurde es zum wichtigsten Kennzeichen der Zentrumspolitik, wichtiger jedenfalls als das Bemühen um Stärkung der kirchlichen Machtpositionen und Sicherung der kirchlichen Freiheiten über den Status quo hinaus.
Die ländlichen Unterschichten stellten lange Zeit nur den passiven Resonanzboden des Ultramontanismus dar: ein Wählerreservoir, das ihm politische Kraft verlieh, weil er es in seinen angestammten Traditionen bestärkte. Ende der 1880er/zu Beginn der 1890er Jahre entwickelte sich aber auch aus diesem Reservoir eine eigenständige politische Bewegung. Zur wachsenden Erbitterung der ländlichen Bevölkerungsgruppen über wirtschaftliche Belastungen und soziale Deklassierung kam jetzt das Vordringen der Techniken und Inhalte bürgerlicher Politik in eben diese Bevölkerungsgruppen im Zuge der "Zweiten Aufklärung".