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Mayer / Schulze

Die Wendegeneration

Lebensverläufe des Jahrgangs 1971

Medium: Buch
ISBN: 978-3-593-39036-9
Verlag: Campus Verlag GmbH
Erscheinungstermin: 05.10.2009
Lieferfrist: bis zu 10 Tage
Der Jahrgang der 1971 Geborenen ist die erste Generation, die ihren Weg ins Erwachsenenalter im wiedervereinten Deutschland finden musste. Bis zum 18. Lebensjahr waren ihre Lebensverläufe durch die BRD und die DDR geprägt. Was ist aus diesen jungen Frauen und Männer im wiedervereinigten Deutschland geworden? Sind die jungen Ostdeutschen, wie oft angenommen wurde, eine 'verlorene Generation' oder haben sie ähnliche Lebensverläufe wie die Westdeutschen? Wie wurden die Westdeutschen von der Flexibilisierung der Arbeitswelt beeinflusst? Wie lange haben sie Heirat und Elternschaft aufgeschoben und warum? Karl Ulrich Mayer und Eva Schulze stellen anhand von biografischen Interviews und Umfragen repräsentative Lebensverläufe und typische Lebensgeschichten vor.

Produkteigenschaften


  • Artikelnummer: 9783593390369
  • Medium: Buch
  • ISBN: 978-3-593-39036-9
  • Verlag: Campus Verlag GmbH
  • Erscheinungstermin: 05.10.2009
  • Sprache(n): Deutsch
  • Auflage: 1. Auflage 2009
  • Produktform: Kartoniert
  • Gewicht: 358 g
  • Seiten: 281
  • Format (B x H x T): 141 x 216 x 20 mm
  • Ausgabetyp: Kein, Unbekannt

Autoren/Hrsg.

Autoren

Mayer, Karl Ulrich

Karl Ulrich Mayer ist Stanley B. Resor Professor für Soziologie an der Yale University.

Schulze, Eva

Eva Schulze leitet das Berliner Institut für Sozialforschung (BIS) und ist Gastprofessorin für Altern und Geschlecht an der Universität Vechta.

Inhalt

Vorwort 11
1 Der Geburtsjahrgang 1971 - Eine verlorene Generation? 14
1.1 Daniela Grabner - Lebensverlauf West, René Michel - Lebensverlauf Ost 15
1.2 Verlorene Generationen? - Mutmaßungen über die Wendegeneration 22
1.3 Sozialer und wirtschaftlicher Wandel 1971 bis 2005 26
1.4 Generationen und Lebensverläufe im Systemumbruch 30
1.5 Annäherungen an den Jahrgang 1971 - Datengrundlagen und Methodik 32
1.6 Fragestellungen und Gliederung des Buches 34

2 "Wir haben gelernt, uns zu organisieren" - Kindheit und Jugend in Ost und West 37
2.1 Rahmenbedingungen und Strukturdaten: Kindheit, Jugend und Schule in Ost und West 39
2.2 "Ich bin ein ganz normales Fließband-DDR-Kind: Krippe, Kindergarten, erste Klasse, ab in den Hort, die Mutter voll berufstätig" - Kindheit und Jugend im Osten 47
2.3 "Da war der politische Druck dann ein bisschen groß" - Negative Erfahrungen mit dem Staat 66
2.4 "Meine Mutter war zu Hause, bis ich 14 war" - Kindheit und Jugend im Westen 74
2.5 Zusammenfassung 84

3 Stolpersteine und Schwellen beim Start ins Arbeitsleben 88
3.1 "Dann stand ich '89 vor dem Problem: Was mache ich jetzt?" - Übergänge von der Schule über die Ausbildung in den Beruf 91
3.2 "Dann bin ich aus dem Programm 'rausgefallen" - Brüche nach der Wende: Ostdeutsche Übergänge in den Beruf 102
3.3 "Alle fünf oder sechs Jahre muss ich etwas Neues machen" - Unfreiwillige und freiwillige Umwege: Westdeutsche Übergänge in den Beruf 117
3.4 Zusammenfassung 132

4 "Man hat es im Nachhinein dann doch irgendwie in die Richtung gebogen" - Berufliche Werdegänge nach der Wiedervereinigung 136
4.1 Drei Debatten: Flexibilisierung, Kompetenzwandel und die Zukunft der betrieblichen Ausbildung 137
4.2 Berufsentwicklung in West und Ost 140
4.3 Kompetenzentwicklung und Berufsbiografien 152
4.4 Zusammenfassung 171

5 "Beim Thema Heiraten wurde er ganz schnell taub" - Partnerambivalenz und Familienbildung 174
5.1 Rahmenbedingungen, Einstellungen und Verhalten 177
5.2 "Wenn Kinder kommen, muss ich erwachsen werden. Das kann dann noch lange dauern!" - Die Später-vielleicht-Väter im Westen 191
5.3 "Wer keine Kinder hat, wird irgendwie schrullig" - Kinder als Selbstverständlichkeit im Osten 195
5.4 "Mein Freund, der wollte keine Familie. Das wäre Verantwortung gewesen" - Die aufgezwungene Ambivalenz der Westfrauen 202
5.5 "Die heutige Familienpolitik ist so beschaffen, dass man die Frau schön in Abhängigkeit hält" - Rückschritt für die Ostfrauen? 211
5.6 Zusammenfassung 219

6 Die unvollendete Einheit - Generationserfahrungen vor und nach der Wende 223
6.1 Kollektiv und Einheitschule vs. Kernfamilie und dreigliedriges Schulsystem 226
6.2 Stolpersteine und Schwellen - Der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt 229
6.3 Karriereverläufe und Kompetenzentwicklung 231
6.4 Die aufgeschobene Familienbildung 233
6.5 Der Geburtsjahrgang 1971 - Konvergenz oder Divergenz? 235

Literatur 238

Anhang 253
A1 Kurzbiografien 253
A2 Informationen zu den Erhebungen der deutschen Lebensverlaufsstudie 277
A3 Tabellen zur Ungleichheit der Bildungschancen in West- und Ostdeutschland 280

1 Der Geburtsjahrgang 1971 – Eine verlorene Generation?

Im Oktober 1989 hat nur ein gutes Drittel der Westdeutschen geglaubt, dass die Wiedervereinigung in absehbarer Zeit möglich wäre (Kaina 2002: 8). Die Ereignisse haben alle Erwartungen überrollt: 1989 führte eine friedliche Revolution zum Fall der Mauer und zum Ende der DDR. Die DDR war wirtschaftlich am Boden und ohne die Sowjetunion nicht überlebensfähig, und das SED-Regime hatte dem Wunsch der Menschen nach Veränderung und persönlicher Freiheit nichts mehr entgegenzusetzen. Die Wiedervereinigung wurde anschließend zur zentralen Aufgabe für Politik und Bürger in Ost und West. Ob politisch, wirtschaftlich oder soziokulturell – die friedliche Revolution und der Vereinigungsprozess haben Deutschland verändert. Für die Ostdeutschen blieb nur Weniges, wie es war; die Lebensbedingungen und Alltagsverhältnisse der meisten Westdeutschen wurden jedoch kaum berührt.
Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer werden zwar die damaligen Ereignisse und Fernsehbilder wieder ins kollektive Gedächtnis gerufen, doch die längerfristigen Folgen der Wiedervereinigung für die Menschen bleiben weitgehend unsichtbar. Was wir sehen, sind die renovierten Plattenbauten, die frisch gestrichenen Fassaden der ostdeutschen Innenstädte und entvölkerte Landregionen. Was wir nicht sehen, ist, was der Mauerfall und die Vereinigung für die Lebensverläufe der Menschen bedeutet haben. Wie ähnlich sind sich West- und Ostdeutsche geworden, wie unterschiedlich sind sie geblieben? Das ist das Thema dieses Buches.
Wir gehen der Frage nach, wie sich junge Frauen und Männer, die zum Zeitpunkt der Wende 18 Jahre alt waren, im wiedervereinigten Deutschland einrichteten und welches Vermächtnis die Herkunft West oder Ost für sie bedeutete. Waren die jungen Westdeutschen durch den Zufall ihrer Geburt im Vergleich mit den gleichaltrigen Ostdeutschen privilegiert? Hatten die Ostdeutschen mit der Vereinigung das große Los gezogen, oder kamen sie in den Turbulenzen der Wende eher unter die Räder?
Als Einstimmung in das umfassendere Vorhaben der Rekonstruktion der Geschichte der Wendegeneration sollen zwei typische Lebensgeschichten dienen – die einer jungen Frau aus dem Westen und die eines jungen Mannes aus dem Osten.

1.1 Daniela Grabner – Lebensverlauf West, René Michel – Lebensverlauf Ost

Daniela Grabner wurde in einer mittelgroßen badischen Kreisstadt geboren. Als sie fünf Jahre alt war, zogen ihre Eltern in eine kleinere Universitätsstadt. Sie hat zwei Brüder, drei und sieben Jahre älter. Der eine studierte Elektrotechnik und ist in einer namhaften Firma im medizintechnischen Bereich beschäftigt; er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Der jüngere Bruder ist promovierter Bauingenieur und bei einer ostdeutschen Firma angestellt. Die Mutter ist gelernte Chemielaborantin, hat diesen Beruf jedoch nie ausgeübt. Sie arbeitete in verschiedenen Läden als Verkäuferin, war dann lange Hausfrau. Als Daniela zwölf war, eröffnete sie einen eigenen Laden. Der Vater ist Architekt und war im öffentlichen Dienst beschäftigt. Beide Eltern sind inzwischen im Ruhestand und in ihren ostdeutschen Herkunftsort zurückgekehrt.
Nach dem Besuch des Kindergartens ging Daniela Grabner in die Grundschule und wechselte später problemlos auf das Gymnasium. Sie stammt aus einem eher bildungsbürgerlichen Elternhaus, entsprechend war dieser Ausbildungsweg selbstverständlich.
'Sie wollten unbedingt, dass ich Abitur mache. Ich hab auch vorher überlegt, ob ich nur Hauptschulabschluss mache. Da hatte ich so einen Koller und wollte Kindergärtnerin werden. Da meinte meine Mutter, nein, jetzt machst du mal schön dein Abi. Da haben sich meine Eltern dann auch durchgesetzt.'
Nach dem Abitur studierte sie Slawistik und Osteuropäische Geschichte.
'Ich habe mich sehr für russische Literatur interessiert, das war ein ganz großes Faible von mir. Ich wollte eigentlich auch gern mittelalterliche Geschichte studieren, aber weil ich nur das kleine Latinum hatte, ging das nicht. Da hab ich halt passend dazu osteuropäische Geschichte studiert. Das war aber eigentlich eher eine Enttäuschung für mich, das Studium. Die Herangehensweise an die Literatur hat mir überhaupt nicht gefallen, das war mir zu nüchtern. Und dann hatte ich Sprachunterricht, den ich sehr frustrierend fand; Russisch und Polnisch fand ich sehr schwer zu lernen. Da hat sich auch nach zwei Jahren noch nicht richtig ein Erfolgserlebnis eingestellt. Na ja, und dann kam die Frage: Was mache ich eigentlich mit dem Studium? Weil, ich denke, das sind Fächer, da muss man schon ganz, ganz gut sein, um eine Unilaufbahn zu machen oder Auslandskorrespondentin oder so was. Und ich war einfach nicht gut genug und hab dann da keine Perspektive gesehen.'
Nach zwei Jahren brach Daniela Grabner ihr Studium ab und begann eine Ausbildung als Buchhändlerin.
'Hab dann in der Buchhandlung, wo ich gelernt habe, auch ne Stelle bekommen und eine eigene Abteilung und zwei Auszubildende gehabt.'
Nach einigen Jahren in ihrem Ausbildungsbetrieb ging sie 1999 nach Berlin, brauchte eine Veränderung. Sie fand gleich eine neue Anstellung im Buchhandel, da sie über einen sehr guten Abschluss und ausreichende Berufserfahrung verfügte. Auch heute arbeitet sie noch dort, jedoch nur noch halbtags. Als berufliche Herausforderung reichte ihr dieser Job nicht. Sie fühlte sich unterfordert und beschloss deshalb 2002, nur noch halbtags zu arbeiten und den Rest der Zeit kreativ zu nutzen. Sie begann, Handtaschen zu entwerfen und gab diese in Geschäften in Kommission. Inzwischen kann sie sich damit ein gutes Zubrot verdienen; zudem macht ihr dieser Ausgleich zur Arbeit großen Spaß.
'Ich arbeite nicht im Laden, ich arbeite im Büro, ist eine Kette. Und die haben ein extra Büro für Bestellungen und für Wareneingang. Wir haben ganz viele große Kunden. Ich bestelle eigentlich nur Bücher und betreue den E-Mail-Verkehr für unsere Website, wir haben auch so einen Online-Buchladen. Ich sitze den ganzen Tag vor dem Computer. Und eine Freundin hat mich auf die Idee gebracht: Arbeite doch mal halbtags eine Zeit lang. Das hab ich dann gemacht. Und dann kam Weihnachten, ich hatte kaum Geld und dachte: So, jetzt holst du mal wieder die Nähmaschine raus, weil ich eigentlich ganz gut nähen kann. Hab mir früher viele Kleider genäht. Und dann hab ich Taschen genäht. Kam mir einfach so, die Idee. Und die Taschen hab ich verschenkt. Die waren so ein Erfolg. Dann hab ich mir ein eigenes Label ausgedacht und hab gedacht, jetzt mache ich einfach mal weiter. Und ich hab dann auch schon bei einer Designausstellung mitgemacht. Kriege per E-Mail die Bestellungen. Also das ist ein kontinuierliches Zubrot geworden. Ist halt ein sehr schöner Ausgleich zu meinem anderen Beruf. Ich bin ganz zufrieden damit. Intellektuell ausgelastet bin ich da nie gewesen oder irgendwie genug gefordert. Aber das sollte auch mein Brotjob sein. Ich hab dann immer gedacht, nee, ich will lieber auf anderem Wege gucken, dass ich mich noch anderen Dingen widme. Das hat ja jetzt so auch ganz gut geklappt.'
Daniela Grabner ist zufrieden und würde rückblickend auch kaum etwas verändern wollen. Sie hätte gern schon früher Kinder gehabt, hat aber den dafür richtigen Partner erst vor wenigen Monaten kennen gelernt.
'Ich finde richtig, dass ich mit keinem meiner vorhergehenden Partner am Ende ein Kind bekommen habe. So gesehen, hat alles seine Richtigkeit gehabt. Ich sehe, am Ende führt immer eins zum anderen, und es bricht auch nicht immer alles über einen herein, sondern man selbst wählt sich das irgendwie. Und so gesehen, denke ich, bin ich den Weg gegangen, der mir angemessen und richtig ist. Ich bin ja jetzt auch, sei es mit den Taschen, sei es mit der Beziehung, die ich jetzt habe, da angekommen, weil ich diesen Weg vorher gegangen bin. Deswegen bin ich ja jetzt die, die ich bin, und jetzt bin ich sehr zufrieden. Also kann ich nicht so viel falsch gemacht haben. Nein, es gibt eigentlich nichts, wo ich denke, Mensch, hättste doch mal.'
Auch privat läuft alles gut. Ihren Partner, mit dem sie seit 2004 liiert ist, möchte sie nun heiraten. Er ist einige Jahre jünger als sie, kommt aus dem Osten, ist gelernter Kaufmann und im Marketing tätig. Auch Kinder sind geplant. Mindestens zwei sollen es werden. In diesem Zusammenhang denkt Daniela Grabner auch über eine berufliche Veränderung nach, hegt den Gedanken, nach der Realisierung des Kinderwunsches die Firma und eventuell – gemeinsam mit ihrem Freund – den Wohnort zu wechseln. Wie ihre Mutter dauerhaft Hausfrau zu sein, kann sie sich nicht vorstellen.
'Ich muss dann auch bald wieder arbeiten. So über Jahre möchte ich das nicht so als Vollzeithausfrau. Fände ich nicht so gut, da würde mir auch was fehlen. Ich hab kein Problem damit, alles in einen Topf zu schmeißen oder auch vom Geld meines Mannes zu leben für eine gewisse Zeit, aber so ein bisschen Taschengeld wenigstens muss ich schon haben. Das ist mir wichtig. Dass man ein bisschen unabhängig ist.'
Frau Grabners Geschichte bietet einen guten Einstieg in unsere Untersuchung für den westdeutschen Teil der Wendegeneration, weil ihr Lebensverlauf einige – wie wir später im Einzelnen zeigen werden – charakteristische Merkmale aufweist: Sie wuchs in relativ geordneten Verhältnissen auf und hat ein positives Verhältnis zu ihren Eltern und ihrer Kindheit. Ihre Mutter blieb zu Hause, als ihre Brüder und sie im Kleinkind- und Grundschulalter waren. Sie wurde in den Bildungsentscheidungen stark von den Eltern beeinflusst. In ihrer Ausbildung und beruflich probierte sie mehrere Dinge aus und suchte nach einem Wechsel, wenn sie nicht zufrieden war. Sie ist auch typisch, weil sie mehrere Partner hatte und auch schon früher gerne Kinder gehabt hätte, aber die Partner als Väter nicht so richtig wollten oder ihr selbst als nicht geeignet erschienen. Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, ist es auch nicht ganz untypisch, dass der Partner, mit dem sie jetzt eine Familie gründen will, aus dem Osten kommt. Schließlich erinnert uns ihr Fall daran, dass die Unterscheidung Ostdeutsche und Westdeutsche keine sich ausschließenden Kategorien sind. Im Verlauf des Buches werden wir mehrere Fälle von Ostdeutschen kennen lernen, die nach der Wende entweder zeitweise oder auf Dauer in den Westen gezogen sind.