Kapitel 1
Interessen und Ideen in der Entstehung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen
In diesem Kapitel wird ein konzeptioneller Rahmen für das Zusammenspiel von
Ideen und Interessen in der Entstehung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen entworfen.
Dabei ist es zunächst notwendig, im ersten Abschnitt eine kurze Diskussion
der Modelle der Entstehung und des Wandels von Institutionen voranzustellen,
die für die Analyse des Wohlfahrtsstaates bisher prägend waren. Die Betrachtung
dieser Ansätze wird zeigen, dass die Frage nach der Rolle der Akteure, ihrer
Ideen und Interessen immer stärker ins Zentrum rückt. Obwohl Institutio nen
und Strukturen die Interessen und Ideen der Beteiligten beeinflussen – so die Argumentation
–, ist doch die Motivation des einzelnen politischen Akteurs jenseits
der umgebenden Institutionenstruktur der konzeptionelle Ort, an dem Ideen und
Interessen verankert werden sollten – ganz im Sinne des akteurzen trierten Institutionalismus
(Mayntz/Scharpf 1995). Es ist daher nötig, das Wechselspiel von
Institution und Akteurorientierung zu analysieren. Zugleich darf dabei die Frage
nach den strukturellen Bedingungen des Akteurhandelns nicht vergessen werden.
Als konzeptionelle Lösung wird hier eine historische Perspektive vorgeschlagen.
Interessen und Ideen sind in dieser Arbeit die bestimmenden Elemente des
politischen Handelns jenseits von Institutionen und werden daher nacheinander
betrachtet, um zu einem gemeinsamen Analyserahmen zu kommen. Daher
folgt im zweiten Abschnitt eine Diskussion des Interessenbegriffs, in der in
Aus einandersetzung mit der Literatur zwei Grundüberlegungen dieser Arbeit
entwickelt werden: Erstens können Interessen als abstrakte, allgemeinere Orientierungen
verstanden werden oder als konkretisierte situative Ziele. Zweitens
können Interessen als kulturell begrenzt oder aber kulturell konstruiert verstanden
werden. Im dritten Abschnitt werden dann die Ideen selbst im Vordergrund
stehen. Sie werden als normative und kognitive Wissensbestände defi niert und
in der kaum mehr zu überblickenden Literatur zur Rolle von Ideen im politischen
Prozess verankert.
Es wird sich zeigen, dass die Wirkung von Ideen genau an dem Übergang
zwischen abstrakten und konkreten Interessen verortet werden kann. Ideen haben
eine doppelte Wirkung auf Interessen: Gerade dadurch, dass sie die Konstruktion
konkreter Präferenzen ermöglichen, begrenzen sie andere potenziell
interessenrelevante Optionen. Dann werden aus einem erweiterten Interessenmodell
zwei für die empirischen Fragen dieser Arbeit zentrale Überlegungen
abgeleitet: Erstens ist Ideenwandel eine mögliche Quelle von Interessenwandel,
wenn die objektiven Kontextbedingungen für eine Neuorientierung ebenfalls
gegeben sind. Zweitens können Ideen partielle gemeinsame Identitäten zwischen
ansonsten konfl igierenden Parteien stiften.
1.1 Institutioneller Wandel in Wohlfahrtsstaaten
Die Nullhypothese der Frage nach der Entstehung der modernen kapitalistischen
Wohlfahrtsstaaten bildete in den Sozialwissenschaften der Nachkriegszeit
die Sichtweise, wonach die Expansion sozialer Rechte eine evolutionäre Folge
des wirtschaftlichen Wachstums und der politischen Demokratisierung sei (Kerr
et al. [1960]1973). Bei T. H. Marshall ([1963]1965) erwuchs in einem evolutionären
Dreischritt aus den wirtschaftlichen Bürgerrechten im 18. Jahrhundert
zunächst die Ungleichheit der politischen Partizipation. Die daraufhin folgende
Herausbildung gleicher politischer Partizipationsrechte in der Demokratie des
19. Jahrhunderts eröffnete den Blick auf die soziale Ungleichheit am Beginn des
20. Jahrhunderts. In Marshalls Typisierung ist der Wohlfahrtsstaat der Höhepunkt
der Entwicklung gleicher – nun auch sozialer – Bürgerrechte, entstanden
durch ständige Bekämpfung und Neuerrichtung ungleicher gesellschaftlicher
Statusordnungen (ebd.: 96). Der Wohlfahrtsstaat erscheint so als notwendige
Folge der wachsenden Industrialisierung und Demokratisierung in allen kapitalistischen
Gesellschaften (Fischer 1979: 93; Flora/Heidenheimer 1981: 22ff.;
Luhmann 1981). Sozioökonomische Modernisierungsprozesse, das heißt, Industrialisierung,
Urbanisierung und Bürokratisierung sowie politischer Fortschritt,
etwa die Ausweitung des Wahlrechts und des Parlamentarismus, werden
in ihrem Zusammenspiel betrachtet, um die Entstehung wohlfahrtsstaatlicher
Institutionen zu erklären (Pierson 1991: 102ff.; Flora/Alber 1981: 38).
Auch die marxistisch inspirierte Politische Ökonomie nimmt diesen evolutionären
Gedanken auf und wendet ihn funktionalistisch: Im Anschluss an Marx
und Polanyi wird die Entstehung des Wohlfahrtsstaates aus der Notwendigkeit
für jede kapitalistische Gesellschaft hergeleitet, den unausweichlichen Krisentendenzen
der kapitalistischen Produktionsweise ein stabilisierendes Element
entgegenzusetzen (Offe 1975: 19; Schäfer 2008). Die Arbeitslosenversicherung
ist aus Sicht dieser Theorie in erster Linie ein funktional notwendiger 'Quantitätsregler
' (Lenhardt/Offe 1977: 107), der in Krisenzeiten Teile der Arbeitskraft
aus dem Arbeitsmarkt herausnimmt (Dekommodifi zierung), sich aber den
regulativen Zugriff bewahrt, diese in besseren Wirtschaftsphasen wieder auf
den Markt zurückzuzwingen (Rekommodifi zierung). Die Gemeinsamkeit aller
moder nisierungstheoretischen wie funktionalistischen Ansätze ist die kausale
Bindung der Wohlfahrtsstaatsentstehung an gesellschaftlichen Entwicklungslinien
auf der Makroebene, die die konkreten Handlungsweisen der Akteure bestimmen
und so zu sekundären Erklärungsfaktoren machen (Alber 1981: 155).
Die Tatsache, dass die Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen in
den verschiedenen kapitalistischen Demokratien erheblich differiert, hat spätestens
seit Ende der 1970er-Jahre eine Neuorientierung zugunsten der Betonung
der Divergenz nationaler Institutionenlandschaften provoziert. Es bildeten sich
drei Erklärungsansätze heraus, die nun nicht mehr die Imperative der demo kratischen
kapitalistischen Gesellschaft insgesamt im Blick hatten, sondern historisch
spezifi sche politische Interessenkonstellationen identifi zierten, die hinter
der Durchsetzung sehr unterschiedlich ausgestalteter wohlfahrtsstaat licher Regelungen
standen. Wohlfahrtsstaatliche Institutionen entstehen demnach nur
dann, wenn sich entsprechende politische Interessen durchsetzen. Zur Erklärung
na tio naler Unterschiede ziehen diese Erklärungsansätze die organisatorische
Struktur der wirtschaftlichen Produktion und Verteilung, die politischen
Spielregeln sowie die historische Stärke der Arbeiterbewegung heran.
1.1.1 Erklärungsfaktoren für die Entstehung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen
Die erste der drei Erklärungsvarianten, der Machtressourcenansatz, weist auf die
Interessen der organisierten Arbeitnehmerschaft und ihrer Vertretung durch die
Sozialdemokratie als entscheidenden Einfl ussfaktor hin. Verschiedene Arbeiten
haben die Entstehung der Wohlfahrtsstaaten aus der historischen Stärke der Sozialdemokratie
und ihrer potenziellen Bündnispartner hergeleitet (Esping-Andersen
1985; Korpi 1983). Im weiteren Sinne wird so die gesellschaftliche und
ökonomische Machtverteilung zwischen Arbeit und Kapital zum wichtigsten Erklärungsfaktor
der wohlfahrtsstaatlichen Dynamik (Heimann [1929]1980: 179;
Hicks 1999: 236ff.; Esping-Andersen 1990: 16; Korpi 1983: 26ff.). Als national
unterschiedliche Einfl üsse auf die Machtressourcen der Arbeiterbewegung sind
hier unter anderem die Anzahl der Mitglieder und die organisatorische Einheit
der Gewerkschaftsbewegung zu nennen, dagegen steht ihre interne Fragmentierung
nach Statuskriterien wie Ethnie, Religion, Herkunft, Bildungsgrad oder
Beruf (Korpi 1983: 26ff.). Die unterschiedlichen historischen Organisationsformen
der Konfl iktlinie zwischen Arbeit und Kapital werden dabei in der weiteren
Ausdifferenzierung des Ansatzes im Zusammenspiel mit anderen gesellschaftlichen
Konfl iktlinien wie etwa zwischen Stadt und Land oder zwischen Kirche und
Staat betrachtet (Esping-Andersen [1989]1998: 35ff.; Lipset [1953]1963: 70ff.;
Lipset/Rokkan 1967: 9ff.; Manow 2008).
Spiegelbildlich dazu haben andere Autorinnen und Autoren die Machtressourcen
und die interne Fragmentierung der Kapital- oder Unternehmerseite zur
Erklärung herangezogen (Castles 1978: 131ff.). Wiederum andere Ansätze nehmen
diese sozialen Konfl iktlinien auf, betonen aber, dass ihre Wirkung sich vor
allem in der Struktur des parteipolitischen Wettbewerbs widerspiegelt, der eine
gewisse Autonomie gegenüber den sozioökonomischen Interessen aufweist,
denen er historisch entsprungen ist (Immergut 1992: 243). Hier werden auch
Wählerstimmen, Parlamentssitze und Regierungsbeteiligungen für die sozialistischen
und sozialdemokratischen Arbeiterparteien als Erklärungs größen für die
unterschiedliche Großzügigkeit verschiedener Wohlfahrtsstaaten herangezogen
(Esping-Andersen 1990: 16; Korpi/Palme 2003). Dazu tritt die Frage nach parteipolitischen
Wettbewerbsstrukturen, Koalitionsmöglichkeiten und der Geschlossenheit
des konservativen oder liberalen Gegners als Erklärungsfaktoren für die
wohlfahrtsstaatliche Institutionenlandschaft (M. Schmidt 1982: 40ff.; Hicks/
Misra/Nah Ng 1995; Kitschelt 2000; Castles 1982: 33; Kersbergen 1995).
Im Unterschied zum gewerkschaftsorientierten Machtressourcenansatz rückt
die Perspektive des staatszentrierten Institutionalismus die autonomen Interessen der
staatlichen Akteure in den Vordergrund und betont die Struktur des staatlichadministrativen
Aufbaus als Erklärungsfaktor für die Entstehung einer bestimmten
Form wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. Wohlfahrtsstaatliche Politik wird
als Element der Nationalstaatenbildung verstanden, und die staatliche Bürokratie
tritt als von den gesellschaftlichen Interessen zumindest prinzipiell unabhängiger
Akteur auf (Skocpol 1992: 42; Skocpol/Finegold 1982; Orloff 1988,
1993). Dabei ist es entscheidend, welche institutionellen Einfl ussmöglichkeiten
bestimmte programmatische Konzepte und einzelne Gruppen von Experten
und Beratern haben (Weir 2005; Weir/Skocpol 1985; Hall 1993; Campbell
1998). Diesen Ansätzen zufolge ist etwa eine wohlfahrtsstaatliche Entwicklung
in den USA vor allem in solchen Bereichen zu erwarten, in denen die an die
Regierung herangetragenen Programmatiken von Organisationen vorgebracht
werden, deren innere Organisation zur dezentralen administrativen Struktur des
politischen Systems der USA passt (Skocpol 1992: 527; Hall 1993).