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Musner

Der Geschmack von Wien

Kultur und Habitus einer Stadt

Medium: Buch
ISBN: 978-3-593-38897-7
Verlag: Campus Verlag GmbH
Erscheinungstermin: 02.03.2009
Lieferfrist: bis zu 10 Tage
Wiens Ruf als Kulturstadt und als 'Weltstadt der Musik' geht auf ein besonderes Flair in Lebensstil, Ästhetik und Alltagskultur zurück. Wie und wodurch ist dieses Bild, das in- und außerhalb Wiens gleichermaßen gepflegt wird, entstanden? Lutz Musner zieht unter anderem Stadtführer, Werbung, Architekturkontroversen, literarische Texte und ortstypische Alltagspraktiken wie die sprichwörtliche 'Wiener Gemütlichkeit' heran, um zu zeigen, wie Traditionen und ästhetische Codierungen die Herausbildung eines ungewöhnlich resistenten Selbst- und Fremdbildes der Stadt beeinflusst haben.

Für "Der Geschmack von Wien" wurde Lutz Musner mit dem Victor-Adler-Staatspreis für Geschichte sozialer Bewegungen des Jahres 2011 ausgezeichnet.

Produkteigenschaften


  • Artikelnummer: 9783593388977
  • Medium: Buch
  • ISBN: 978-3-593-38897-7
  • Verlag: Campus Verlag GmbH
  • Erscheinungstermin: 02.03.2009
  • Sprache(n): Deutsch
  • Auflage: 1. Auflage 2009
  • Serie: Interdisziplinäre Stadtforschung
  • Produktform: Kartoniert
  • Gewicht: 378 g
  • Seiten: 295
  • Format (B x H x T): 144 x 215 x 20 mm
  • Ausgabetyp: Kein, Unbekannt

Autoren/Hrsg.

Autoren

Musner, Lutz

Lutz Musner ist Wissenschaftssekretär des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien.

1. Wien ist anders.7
2. Kultur und Habitus der Stadt.25
3. Wien vom Belvedere aus gesehen.59
4. Die Stadt und ihr Double.89
5. Musik liegt in der Luft. 137
6. Eine Archäologie der Wiener Gemütlichkeit. 173
7. Die Großstadt als Geschmackslandschaft. 205
8. Spätmoderne Transformationen einer Kulturstadt. 243
9. Der Habitus von Wien. 259
10. Literatur. 283
Dank.295

Wenige Zuschreibungen haben die Außenwahrnehmung der Donaumetropole
derart massiv bestimmt wie das Attribut, eine Musikstadt von Weltgeltung
zu sein. Mediale Repräsentationen und touristische Erwartungshaltungen,
kommunalpolitische Initiativen und Kampagnen der Werbewirtschaft,
das internationale Feuilleton und die lokale Souvenirindustrie
variieren immer wieder aufs Neue das Bild der Stadt als totalen Klangkörper,
in dem Klassisches und Modernes, Oper und Operette, Wolfgang
Amadeus Mozart und Franz Lehár, gediegene Philharmonie und Jazzavantgarde
gleichermaßen Platz und Funktion haben. Mediale Großereignisse
wie die Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker inszenieren
für internationale Zuschauerforen das Bild einer Stadt, die eine
musikalische Meistererzählung der großen Tonheroen Haydn, Mozart,
Schubert, Beethoven, Brahms, Bruckner, Mahler und Schönberg geschrieben
hat und deren Atmosphäre wesentlich von den Walzerklängen der
Strauß-Dynastie und den Operettenmelodien eines Johann Strauß,
Emmerich Kálmán und Robert Stolz bestimmt wird. Der Opernball
schließlich signalisiert nicht nur das 'wahre Ich der Walzerweltstadt Wien',
die Verzahnung von Musik und guter Gesellschaft und das wichtigste
Ereignis der Ballsaison, sondern auch die nostalgische Inszenierung von
Geschichte im Großen Saal der Staatsoper:

Eine Blattgoldorgie mit Orgel in griechischer Renaissance. 19. Jahrhundert, 19 auf
49 Meter. Ringstraßen-Architektur. Decke Kassetten, Boden Parkett, Wände längs
dekoriert mit zweimal sechzehn Karyatiden, barbusig im Spalier, illuminiert von
zwei Fünferreihen riesiger Lüster aus Kristall. Apoll & Musen blicken vom
Plafond. Eine Galerie von Menagerie & Statisterie menschlicher & animalischer
Art, geflügelt & beharft.
Rezente Phänomene wie der Austro-Pop von Wolfgang Ambros ('Es lebe
der Zentralfriedhof', 1975) und von Johann Hölzl alias Falco ('Rock me
Amadeus', 1986), die auf authentisches Lokalkolorit bedachte Volksmusik
der Extremschrammeln von Roland Neuwirth sowie der groovige
Dancefloor-Sound von Kruder & Dorfmeister runden die Vorstellung
eines urbanen Klangkörpers ab, der ästhetische Erbauung und kurzweilige
Unterhaltung wie auch ein spezifisches Lebensgefühl insinuiert. Nach wie
vor ist die Walzermusik jedoch universeller Marker der Stadt in Medien,
Film und Fernsehen und ihr wird nachgesagt, dass sie in der Donaustadt
gleichsam in der Luft läge und den WienerInnen (nebst dazugehörigem
Wein) geradewegs ins Blut übergegangen sei. Trotz einiger Avantgarde-
Nischen, wie zum Beispiel der elektronischen Musik und dem Jazz (Vienna
Art Orchester), kann man annehmen, dass das Musikstadtimage gegenwärtig
weniger einer genuinen Kreativität vor Ort entspringt als vielmehr
'von außen herangetragen ist, das heißt einer Fremdsicht entspricht, die
man sich als Reflexion eines vielleicht vor längerer Zeit ausgesandten
Signals vorstellen kann.'
1945 veröffentlichte der von den Nazis in das New Yorker Exil gezwungene
jüdische Musikkritiker Max Graf ein Buch mit dem Titel
'Legend of a musical city', das nach seiner Rückkehr nach Wien wenig
später auch auf Deutsch erschienen ist. Darin hat Graf – welch bittere
Ironie angesichts der eigenen bitteren Erfahrung der Emigration – wie kein
Zweiter vor ihm und nach ihm die wichtigsten Topoi jener Stadterzählung
identifiziert, die im Wesentlichen bis heute das Assoziationsfeld und den
Gedächtnisort einer 'Musikhauptstadt der Welt' konstituieren. Im Rückblick
auf den Schicksalstag 12. März 1938, als die deutsche Armee in Wien
einmarschierte und Österreich an Hitler-Deutschland 'angeschlossen' und
damit eine brachiale Zäsur geschaffen wurde, schafft Graf ein Gegenbild,
in dem er Wien als Stadt beschreibt, die bis dahin voll Lebensfreude und
Kultur gewesen und deshalb von der Welt 'wie eine schöne Frau geliebt'
worden sei:

Für die große Welt war Wien vor allem eine Stadt der Musik oder, besser, die Stadt
der Musik; die einzige Stadt der Welt, die undenkbar war ohne die Musik. Man
konnte sich Wien ebenso wenig ohne Musik vorstellen, wie Rom ohne St. Peter
und den Vatikan, Paris ohne seine Boulevards oder New York ohne Wall Street
und Wolkenkratzer. Wien war die Stadt, in der die großen Komponisten gelebtund geschaffen hatten. Es war die Stadt von Haydn und Mozart, Beethoven und
Schubert, Brahms und Bruckner, Gustav Mahler und Arnold Schönberg. Von hier
aus hatten die Straußschen Walzer ihren Tanz über die ganze Welt angetreten, um
überall im Dreivierteltakt das Evangelium der Lebensfreude zu verkünden. Aus
Wien stammten auch die Operetten von Karl Millöcker, Franz Lehár, Oscar
Strauss und Leo Fall, die in der ganzen Welt das Publikum als ein Gruß aus Wien
enthusiasmiert hatten. Doch in Wien selbst kam diese Musik nicht aus den
Theatern und Konzertsälen, sondern die Luft selber war Sang und Klang. Galt
Paris als Stadt des Geistes, Rom als Mittelpunkt der katholischen Welt, London als
die Hauptstadt des größten Reiches der modernen Zeit, so war Wien die anerkannte
Musikhauptstadt der Welt.
Dieser Ruf habe Musiker aus aller Welt nach Wien gebracht, die hier ihr
Handwerk lernten und an den berühmten Bühnen und der Oper sowie in
den Konzertsälen erste Schritte zu Erfolg und internationaler Anerkennung
setzten. Die Gräber der bekannten Komponisten seien wie die
Sakralbauten in Rom zu Wallfahrtsstätten der Musikliebhabern geworden,
und die anderen Attraktionen der Wiener Moderne (Medizin, Kunstgewerbe
und der Wohnbau des 'Roten Wien') verblassten neben der
überragenden Bedeutung des Wiener Musikbetriebs. Bis zu 'jenem traurigen
Märztag', an dem eine große Epoche der Musik zu Ende ging, hätten
'zehn Generationen […] an der Entwicklung Wiens zu einer großen
Hauptstadt der Musik mitgebaut', und vom 17. Jahrhundert an sei 'die
Musiklinie Wiens in einer steten Kurve immer höher und höher gestiegen.'
Ausgehend von der Hofmusik des Barocks entwirft Graf eine
kumulative Geschichte, die mit dem Viergespann der klassischen Musik
Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert einen ersten Höhepunkt erreicht
habe, um über die Zwischenstufen Brahms und Bruckner am Ende das
Schauspiel der großen Zerstörung der Klassik durch Arnold Schönberg zu
erleben. Vergleichbar sei diese Dramatik nur mit der Antike und mit der
Renaissance – mit Plato, Aristoteles und Aristophanes sowie mit Raphael,
Michelangelo und Tizian. Die Entwicklung Wien sei ganz ähnlich verlaufen
– 'durch ein ständiges Wachstum der künstlerischen Phantasie, durch eine
immer größere schöpferische Weltweite, durch die nie aufhörende Arbeit
von Generationen' und wie eine 'Symphonie hätte es rauschend ausgeklungen,
Krescendo auf Krescendo.'