Mein Forschungsgegenstand ist der Wandel der Vergangenheitspolitik (verstanden als der politische, justizielle und diskursive Umgang mit einem verbrecherischen Vorgängerregime) in Kroatien nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens und dem Wahlsieg Franjo Tu?mans und seiner Partei, der "Kroatischen demokratischen Gemeinschaft" (HDZ) 1990. Es geht dabei jedoch nicht um die Analyse der Konstruktion nationaler Geschichte im Allgemeinen, sondern um den Umgang mit jener "verbrecherischen Vergangenheit", die in Kroatien nach 1990 im öffentlichen Diskurs eine zentrale Rolle einnahm: der Phase des Zweiten Weltkrieges und des Ustascha-Regimes (1941-1945). Dort, wo der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg und dem sozialistischen Regime im Zusammenhang miteinander diskutiert werden, etwa wenn die PartisanInnen als die späteren kommunistischen FunktionärInnen kritisiert werden, wird auch die Zeit nach 1945 in die Analyse miteinbezogen.
Der Wandel der Vergangenheitspolitik wird entlang der politischen Wenden 1990-2000-2003 verfolgt: Die zentrale Fragestellung ist somit jene nach den Kontinuitäten und Brüchen der Vergangenheitspolitik in Jugoslawien, dem als autoritäres Wahlregime zu verstehenden "Tu?man-Regime" 1990-1999, der sozialdemokratisch regierten Ära nach Tu?mans Tod (2000-2003) sowie dem neuerlichen Wahlsieg einer sich nunmehr als reformiert und europaorientiert darstellenden "neuen HDZ" (2003-2008).
Die Fragestellung lässt sich folgendermaßen präzisieren: Wie hat sich der politische und justizielle Umgang mit der Vergangenheit von der jugoslawischen Ära bis heute gewandelt? Dies wird für die Phase bis 1990 vor allem anhand von Sekundärliteratur und für die Phase danach insbesondere anhand von Zeitungsartikeln untersucht, da dazu noch kaum Arbeiten vorliegen. Die Medien dienen somit zunächst als Quelle zur Informationsgewinnung. Wie hat sich ferner die diskursive Vergangenheitspolitik, also das "Feld des Sagbaren" von 1990 bis 2008 gewandelt? Welche Ereignisse lassen sich als diskursive Wenden und Höhepunkte bestimmen? Inwiefern waren die politischen Wendejahre 1990, 2000 und insbesondere 2003 auch Wenden im Diskurs? Mit diesem Hauptteil der Arbeit wird wissenschaftliches Neuland betreten. Hier dienen die Zeitungsartikel nicht mehr der Informationsgewinnung über Straßenumbenennungen oder Gerichtsprozesse, sondern werden einer diskursanalytischen Untersuchung unterzogen. Im Zentrum stehen dabei die jährlichen Debatten um die zwei meistumkämpften Gedächtnisorte Jasenovac und Bleiburg, aber auch der Gerichtsprozess gegen den ehemaligen KZ-Kommandanten von Jasenovac, Dinko Šaki? 1998/1999.
Wie lässt sich darüber hinaus der Zusammenhang zwischen der politischen Entwicklung - vom sozialistischen Jugoslawien über das autoritäre Tu?man-Regime zur konsolidierten Demokratie nach den Wendewahlen im Jahr 2000 - mit der Vergangenheitspolitik in Kroatien bestimmen? Zur Demokratieentwicklung in Kroatien liegt vor allem in der Landessprache bereits umfangreiche Literatur vor. Dieser Aspekt ist zunächst zur Kontexualisierung der Vergangenheitspolitik unverzichtbar und kann am Schluss in Bezug auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Demokratisierung und Vergangenheitspolitik wieder aufgegriffen werden.
Wie lässt sich schließlich das Spannungsverhältnis zwischen der "Europäisierung der Erinnerung", in deren Fokus der Holocaust als negativer europäischer Gründungsmythos rückt, mit der konkurrierenden Erinnerung an die staatssozialistischen Verbrechen und der Ansicht vereinbaren, der Ustascha-Staat sei ein "Meilenstein" auf dem Weg zur kroatischen Unabhängigkeit gewesen? Wie wirken sich der in Gedenkmuseen beobachtbare internationale Fokus auf individuelle Opferschicksale und die Verwendung der Holocaust-Terminologie zur Deutung aktueller Kriege ("Rampe von Srebrenica") auf die kroatische Vergangenheitspolitik aus? Mit dieser Frage soll über das kroatische Fallbeispiel und den state of the art der Forschung zu europäischen Erinnerungsstandards und -konflikten nach 1989 hinausgegangen werden.
Um diesen Fragen nachzugehen, wird im ersten Kapitel zunächst der theoretische Zugang ausgewiesen, bei dem die Frage nach der identitätsstiftenden Konstruktion der Vergangenheit in Nationalismus- und Gedächtnistheorien sowie bei den Konzepten "Geschichts- und Vergangenheitspolitik" im Vordergrund steht. Danach werden die Methode der theorie- und materialgeleiteten Diskursanalyse von Printmedien (in Anlehnung an Reiner Keller und Siegfried Jäger) und das konkrete Konzept der Analyse zweier kroatischer Printmedien, der staatlichen Zeitung Vjesnik und des unabhängigen Novi list, vorgestellt. Im zweiten Kapitel wird die Untersuchung in den internationalen Kontext der "Europäisierung der Erinnerung", aber auch der Konkurrenz zwischen Holocaust- und Gulag-Gedächtnis eingebettet. Da der Gegenstand der Arbeit der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg ist, wird in Kapitel drei der aktuelle Stand der historischen Forschung über diese Periode, über die Shoa und den Genozid an SerbInnen und Roma im Ustascha-Staat, den Bürgerkrieg und Bleiburg als Symbol für den Massenmord im Mai 1945 dargelegt.
Anschließend wird in Kapitel vier der Wandel des Umgangs mit dieser Vergangenheit zu Zeiten Jugoslawiens dargestellt. Dabei wird die sozialistische Vergangenheitspolitik nicht als starr und "eingefroren" begriffen. Vielmehr ist die Aufkündigung des antifaschistischen Narrativs von den "supra-nationalen" PartisanInnen seitens der serbischen und kroatischen HistorikerInnen seit den sechziger Jahren ein zentraler Teil der Darstellung. Das ermöglicht ferner, das Vergangenheitsverständnis Franjo Tu?mans, der bei dieser Entwicklung eine Vorreiterrolle einnahm, über die Jahrzehnte hinweg zu verfolgen. Während der Forschungsstand über die justizielle und symbolische Vergangenheitspolitik seit 1945 anhand von Sekundärliteratur dargestellt werden kann, erlaubt die Diskursanalyse der Artikel rund um die Gedenkveranstaltung in Jasenovac in den letzten fünf Jahren bis zum Zerfall Jugoslawiens eine präzise Bestimmung des 1990 mit der Unabhängigkeit Kroatiens eingetretenen Bruchs in der Vergangenheitspolitik - aber auch etwaiger Kontinuitäten.
In Kapitel fünf folgt die Analyse der Tu?man-Ära, wobei zunächst die politische Entwicklung seit den ersten demokratischen Wahlen 1990 dargestellt wird. Zur Kontextualisierung der Vergangenheitspolitik ist das Wissen um die Demokratiedefizite des autoritären Tu?man-Regimes und die für unsere Untersuchung zentrale Repression freier Medien unverzichtbar. Davon ausgehend kann dann einerseits der Wandel im politischen, justiziellen und symbolischen Umgang mit der Vergangenheit analysiert, andererseits jedoch auch und vor allem der diskursive Wandel der Vergangenheitspolitik anhand der Debatten um die beiden Gedächtnisorte Jasenovac und Bleiburg untersucht werden. Dabei wird besonderes Augenmerk auf die in zahlreichen Artikeln vorgenommene Parallelisierung von Jasenovac und Bleiburg, auf Kollektivsymbole und dämonisierende Feindzuschreibungen gelegt. Die Rolle internationaler AkteurInnen im Diskurs lässt sich vor allem anhand zweier Vorkommnisse analysieren: erstens der Debatte rund um Präsident Tu?mans Plan, die KZ-Gedenkstätte Jasenovac in eine "nationale Versöhnungsstätte" auch für die Opfer von Bleiburg und des Krieges in den Neunzigern umzuwidmen; und zweitens des "Falls Šaki?" von der Auslieferung des ehemaligen KZ-Kommandanten aus Argentinien 1998 bis zu seiner Verurteilung vor dem Bundesgericht in Zagreb 1999. Im außenpolitisch vor allem aufgrund der aggressiven Politik gegenüber Bosnien-Herzegowina weitgehend isolierten Kroatien der neunziger Jahre wies insbesondere die letzte Debatte deutlich verschwörungstheoretische Züge auf. Das Interessante an beiden Fällen ist, dass sie dennoch Grenzen revisionistischer Vergangenheitspolitik im "vereinten Europa" aufzeigen, wenn es um die Umwidmung von KZ-Gedenkstätten oder die Inschutznahme von KriegsverbrecherInnen aus dem Zweiten Weltkrieg geht.
In Kapitel sechs wird der Wandel der Vergangenheitspolitik nach Tu?mans Tod und den Wendewahlen, die im Jahr 2000 die Anfang der neunziger Jahre schnell wieder gestoppte Demokratisierung Kroatiens erneut einleiteten, analysiert. Auch hier werden zunächst die politische und symbolische Ebene beleuchtet, etwa die Rückumbenennung des Platzes der Opfer des Faschismus in Zagreb, der in den Neunzigern Platz der kroatischen Größen geheißen hatte. Der öffentliche Diskurs in Bezug auf die beiden Gedächtnisorte wird in dieser Phase vor allem anhand der Debatten rund um die Besuche von Premier Ivica Ra?an in Jasenovac und Bleiburg 2002 sowie von Präsident Stjepan Mesi?s erstem Besuch in Jasenovac 2003 analysiert, bei dem er endgültig mit der revisionistischen Politik seines Amtsvorgängers brach und alle im Namen des kroatischen Staates begangenen Verbrechen verurteilte.
Kapitel sieben geht der Frage nach, ob seit dem neuerlichen Wahlsieg der ehemaligen Tu?man-Partei, der nun als reformiert geltenden HDZ, im Jahr 2003 eher die fortschreitende Konsolidierung der Demokratie in Kroatien zu einer Kontinuität der Vergangenheitspolitik beiträgt oder ob der Machtwechsel eine Rückkehr zu den aus den Neunzigern bekannten Deutungen mit sich bringt. Von besonderem Interesse ist in dieser Phase der Zusammenhang zwischen den EU-Beitrittsbemühungen Kroatiens und der Ausrichtung an internationalen Trends im Umgang mit der Vergangenheit. Hier wird unter anderem anhand des Konflikts um die 2006 in der Gedenkstätte Jasenovac neu eröffnete Ausstellung und des Besuchs von Premier Ivo Sanader in Yad Vashem 2005 untersucht, inwiefern die "europäische Integration" eine kritische Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit erforderlich macht, aber auch neue nationale Opfererzählungen, etwa vom "serbischen Faschismus" oder "rotem und schwarzem Totalitarismus", ermöglicht.
Schließlich werden in Kapitel acht nicht nur die eingangs gestellten Fragestellungen resümierend beantwortet, sondern wird auch die kroatische Vergangenheitspolitik vergleichend in den ex-jugoslawischen Kontext gestellt, indem die Entwicklungen in den Nachbarländern kursorisch umrissen werden. Anhand der jeweiligen nationalen Opfermythen werden Ähnlichkeiten und gegenseitige Beeinflussungen der Erinnerungskämpfe in den ehemaligen jugoslawischen Republiken aufgezeigt, wobei zu hoffen ist, dass derartige Analysen in baldiger Zukunft nicht nur im "Ausland", sondern auch in Zagreb, Belgrad und Sarajevo durchgeführt werden können.