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Rinke

Im Sog der Katastrophe

Lateinamerika und der Erste Weltkrieg

Medium: Buch
ISBN: 978-3-593-52043-8
Verlag: Campus
Erscheinungstermin: 18.09.2024
vorbestellbar, Erscheinungstermin ca. September 2024
Als in den Augusttagen 1914 die Nachricht vom Kriegsausbruch in Europa in Lateinamerika bekannt wurde, sprach man dort von einem 'Drama der gesamten Menschheit', in dem es keine Zuschauer geben könne. Viele Beobachter stimmten darin überein, dass in diesem Sommer eine Epoche endete und eine neue Ära begann. In Lateinamerika, das durch die neuartige Form des Propagandakriegs und die
neuen Kommunikationstechnologien direkter als je zuvor in die Ereignisse der 'Alten Welt' involviert war, gab der Krieg den Anlass zu emanzipatorischen Bestrebungen, die sich während des Konflikts – oder unmittelbar nach Kriegsende – bemerkbar machten. Seit längerer Zeit bestehende Konfliktpotenziale verschärften sich durch die 'Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts' und mündeten in neue soziale
Bewegungen, deren Ausrichtung höchst unterschiedlich war. Stefan Rinke, einer der besten Kenner der lateinamerikanische Geschichte in Deutschland, analysiert die weltumspannende Dimension der Geschichte des 'Großen Krieges' in diesem Buch aus der Perspektive eines Kontinents, der nur auf den ersten Blick am Rand der Ereignisse stand, sich aber durch den Flächenbrand in Europa stark veränderte.

Produkteigenschaften


  • Artikelnummer: 9783593520438
  • Medium: Buch
  • ISBN: 978-3-593-52043-8
  • Verlag: Campus
  • Erscheinungstermin: 18.09.2024
  • Sprache(n): Deutsch
  • Auflage: 2. Auflage 2024
  • Produktform: Kartoniert
  • Gewicht: 546 g
  • Seiten: 348
  • Format (B x H): 140 x 213 mm
  • Ausgabetyp: Kein, Unbekannt

Autoren/Hrsg.

Autoren

Rinke, Stefan

Stefan Rinke ist Professor für Geschichte Lateinamerikas an der FU Berlin.

Inhalt

Vorwort 7

Einleitung 9

Lateinamerika im globalen Kontext vor 1914 23

Von Kolonien zu unabhängigen Staaten 24

Europäisierung Lateinamerikas? 30

Integration in den Weltmarkt 35

Der imperialistische Wettlauf 44

Neutralität unter Druck, 1914-1917 50

Vorbote der Gewalt: die Revolution in Mexiko 50

Politische Herausforderungen 54

Wirtschaftliche Bedrohungen 77

Propagandakrieg 100

Die Wegscheide von 1917 130

U-Boot-Krieg und der Kriegseintritt der USA 131

Abbrüche und Kriegseintritte 145

Die Neutralen 171

Unruhige Wege in eine "neue Ära", 1918/19 192

Der "subtile Krieg" um regionale Vorherrschaft 192

Wirtschaftliche Rivalitäten und Perspektiven 202

Das Ende des sozialen Einvernehmens 210

Vom Waffenstillstand zur "Wilsonianischen Enttäuschung" 219

Untergang einer Welt 232

Der Krieg im Alltag 233

Das Ende der Zivilisation 248

"Die Stunde Amerikas" 258

Nation und Transnation 265

Der Aufstieg des Nationalismus 265

Das Streben nach Partizipation 273

Transnationale Identitäten 282

Ein Platz auf der Weltbühne 289

Das globale Erbe des Weltkriegs 298

Abkürzungen 306

Quellen und Literatur 307

Zeittafel 337

Register 341

Vorwort

Die Entstehungsgeschichte dieses Buches spiegelt in gewisser Hinsicht die geschichtswissenschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte wider. Als ich Anfang der 1990er-Jahre begann, mich im Rahmen meiner Doktorarbeit mit transnationaler Geschichte zu beschäftigen, war dies noch ein neues Feld. Mittlerweile ist die transnationale Perspektive in der Zunft etabliert und hat zahlreiche Theoretiker und Anwender beschäftigt. Von deren Arbeiten habe ich über die Jahre viel profitiert, und meine ursprüngliche Projektidee zu Lateinamerika im Ersten Weltkrieg hat sich erheblich verändert. Das Ergebnis dieses Prozesses ist das vorliegende Buch, das von lebhaften Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen sowie Studierenden sehr profitiert hat.

Der Begriff des globalen Bewusstseins spielt in diesem Buch eine wichtige Rolle. Damit folge ich einem Ansatz unserer DFG-Forschergruppe "Akteure der kulturellen Globalisierung". Ein weiterer anregender Kontext an der Freien Universität ergab sich durch das Projekt "1914-1918-online". Die Möglichkeit, mein Forschungsprojekt in Buchform abzuschließen, erhielt ich durch ein Research Fellowship der Einstein-Stiftung, das ich am Ibero-Amerikanischen Institut wahrnehmen konnte. Beiden Institutionen möchte ich besonders danken.

Mein großer Dank gilt denen, die mich bei der Fertigstellung dieses Buchs direkt unterstützt haben, insbesondere Karina Kriegesmann. Sehr dankbar bin ich meinem akademischen Lehrer und Freund Hans-Joachim König, der mich vor vielen Jahren davon abgehalten hat, meiner Dissertation noch ein Weltkriegskapitel hinzuzufügen. Meiner Familie, die mich oft vermisst hat, wenn ich mich in lateinamerikanischen Bibliotheken und Archiven aufhielt, danke ich von Herzen für das Verständnis und die liebevolle Unterstützung.

Berlin, im August 2014, Stefan Rinke

Einleitung

Am Hafen und auf den Märkten ist es ungewohnt still. Schon seit Tagen stehen die Theater und Kinos leer. Dafür ist es vor den Niederlassungen der großen Zeitungen umso lauter, wo sich Menschenmengen schon im frühesten Morgengrauen zusammenfinden, um die neuesten Nachrichten zu hören. Wenn die Sirene ertönt, die das Eintreffen wichtiger neuer Kabelnachrichten ankündigt, erheben sich die spontanen Redner, die den Krieg verdammen oder für eine der beiden Seiten Partei ergreifen. Die Straßenbahnen kommen nicht mehr durch. Gerüchte flirren durch die Luft. Es heißt, der österreichische Kaiser sei einem Attentat zum Opfer gefallen. Vor den geschlossenen Toren der Bankgebäude schimpfen frustrierte Kunden lautstark und rotten sich zusammen. Wie soll man die explodierenden Preise bezahlen, wenn man nicht mal an sein Geld kommt? Noch dazu, wenn die Arbeitsstelle plötzlich so unsicher ist wie nie zuvor. Überall rotten sich Arbeitslose aus den Unterschichten zusammen und täglich kommen mehr aus den Provinzen, wo die großen ausländischen Bergbau- und Plantagenunternehmen Tausende von einem Tag auf den anderen entlassen haben.

Derweil marschieren uniformierte Seeleute und Reservisten verschiedener Länder in Formation durch die Straßen. Sie wollen sich in ihren Konsulaten für den Militärdienst melden. Ein paar Straßen weiter bewegen sich die Marseillaise und "God save the Queen" singende Demonstrationszüge auf die diplomatischen Vertretungen der Alliierten zu, um ihre Sympathien kundzutun. Fast zeitgleich demonstrieren Sozialisten lautstark für die Wiederherstellung des Friedens. Auf ihre eigene Weise praktizieren dies die Gläubigen, die sich den Friedenswallfahrten anschließen. In den Ministerien treffen sich Politiker, Unternehmer und Banker und beraten, was nun zu tun ist, ohne eine Antwort zu finden. Überall herrscht nervöse Unruhe, und die Polizei trifft Vorkehrungen, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Es ist, als warteten alle nur darauf, dass das Gewitter, dessen Donnergrollen man in der Ferne zu hören glaubt, sich vor Ort als Blitz entlädt und ungeahnte Verwüstungen anrichtet.

Laut der zeitgenössischen Presse spielten sich solche oder ähnliche Szenen Anfang August 1914 mehr oder weniger intensiv landauf, landab in den Städten Lateinamerikas ab. Als die Nachricht vom Kriegsausbruch in Eu-ropa bekannt wurde, sprach man dort von einer Katastrophe, die die Welt aufgrund der engen globalen Verflechtungen mit einer Krise bislang unge-kannten Ausmaßes konfrontiere. Der Kommentator der Zeitung La Nación in Buenos Aires, einer der führenden Zeitungen Lateinamerikas, brachte dies stellvertretend für eine Vielzahl ähnlich lautender Darlegungen bereits am 2. August 1914 auf den Punkt:

"Wir wohnen einem der größten Geschehnisse und einer der größten Katastro-phen der Menschheitsgeschichte bei. Der seit Langem unvermeidliche europäische Krieg stürzt die Welt in eine Krise, die sie so noch nie gesehen hat. In der Tat bezahlt unsere Zivilisation, die die Entfernungen und die Zeit unbestreitbar zum Wohle für die Produktivkraft der Spezies beherrscht, brutal mit Nerv und Gefühl die materiellen Vorteile, die diese Herrschaft mit sich brachte. So wie der Geistesblitz einer Entdeckung oder Erfindung oder des Genies heute fast zeitgleich von dem Ort, an dem er sich entzündet, alle Ebenen des Denkens erleuchtet, so erschüttert und verändert sogar noch schneller und mit noch mehr Kraft auch der Blitz, der an irgendeinem Punkt des Planeten in die Gesamtheit des Raumes einschlägt, in dem der Mensch arbeitet, fühlt und leidet. Dieses Mal schlägt der Blitz im Zentrum ein, der großen Bühne des allgemeinen Lebens, die vor Angst und Grauen zittert, als sei für sie bereits die Nacht ohne Ende angebrochen. […] Aus der Explosion Europas, aus der Erschütterung, die heute die sozialen Organismen bewegt, steigt ein Problem herauf, dass sich bis jetzt noch nie gestellt hat und dessen Prämisse ist: Es gibt keine Zuschauer bei diesem Drama, mehr oder weniger direkt wirkt die gesamte Menschheit darin mit."

Die Weltdimension der Ereignisse war den lateinamerikanischen Zeitzeugen frühzeitig deutlich vor Augen. Damit folgten sie bewusst oder unbewusst Vorstellungen, die Europäer bereits vor Kriegsbeginn hegten. Wenn etwa der deutsche Schriftsteller August Niemann 1904 von einem "Welt-krieg" träumte, dann meinte er damit nichts anderes als eine europäische Welt beziehungsweise eine Welt, die unweigerlich in die große Kontroverse der Europäer mit hineingezogen würde. "Wenn Europa kämpft, dann ist das, als ob die ganze Welt kämpft", dieses eurozentrische Verständnis des Begriffs hat seit 100 Jahren die Geschichtsschreibung bestimmt. Natürlich begann der Krieg in Europa und ein Großteil der Fronten verlief dort. Außerhalb des eigenen Kontinents zogen die Europäer zunächst ihre Kolonien, später auch andere, ursprünglich neutrale Staaten mit in den Krieg hinein. Wenn Historiker aber den Weltkrieg heute als "[…] Krieg bezeichnen, der durch sein geografisches Ausmaß über mehrere Kontinente und durch den unbegrenzten Einsatz aller verfügbaren strategischen Ressourcen weltweite Bedeutung erlangt", dann rücken jene Weltregionen in den Blick, die aus der klassischen europäischen Perspektive als peripher galten, und können als Akteure erkannt werden. Um den Weltkrieg als globalen Krieg zu verstehen, ohne in die epistemologische Falle des Eurozentrismus zu geraten, muss die Geschichtsschreibung ihn auch jenseits der Schlachtfelder suchen. Im "Drama" dieses Weltkriegs konnte es eben "keine Zuschauer" geben.

Zweifellos war der Erste Weltkrieg ein "globaler Moment", an dem das scheinbar periphere Lateinamerika intensiv teilhatte. Von Beginn an spürten Lateinamerikaner, dass dieser Krieg eine die ganze Welt betreffende Dimension hatte. Tatsächlich bedeutete der Ausbruch des Kriegs in Europa 1914 aus Sicht vieler lateinamerikanischer Beobachter einen tiefen Schnitt in der historischen Entwicklung, das zeigt nicht nur der Kommentar aus La Nación. Weil das europäische Zivilisationsvorbild und Entwicklungsmodell sowie der uneingeschränkte Glaube an den menschlichen Fortschritt zwischen 1914 und 1918 scheiterten, ging im übertragenen Sinn eine Welt unter, in der Lateinamerika einen festen Platz besessen hatte. Viele Zeitzeugen stimmten daher darin überein, dass in den Augusttagen von 1914 eine Epoche endete und eine neue, noch ungewisse begann.

Am Beispiel des Ersten Weltkriegs lässt sich zeigen, wie stark das globale Bewusstsein in Lateinamerika zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeprägt war und wie es sich im Lauf der vier Jahre des Völkermordens wandelte. Mit globalem Bewusstsein ist in diesem Zusammenhang nicht ein kosmo-politisches Denken als vielmehr eine Vorstellung von der Bedeutung welt-umspannender Verflechtungen und Integrationsprozesse gemeint. Trotz der großen Entfernungen zu den Schlachtfeldern war der Erste Weltkrieg in Lateinamerika so präsent wie kein anderes Ereignis zuvor und es war klar, dass die Auswirkungen die eigene Lebenswirklichkeit in Mitleiden-schaft zogen. Zwar waren längst nicht alle Menschen in der Region in gleichem Maß in diese Vernetzung mit einbezogen, doch endete die relative Isolation, aus der heraus sie vor 1914 Kriege in Europa verfolgt hat-ten.

Lateinamerikaner nahmen Anteil an den Schrecken, Hoffnungen und Befürchtungen, die der Krieg auslöste. Sie beteiligten sich an den Debatten um das Ende der westlichen Vorherrschaft und um den Niedergang Europas, die damals weltweit stattfanden und zu einem Charakteristikum des 20. Jahrhunderts werden sollten. Die Wahrnehmung des Kriegs erfolgte in einem globalen Maßstab, denn durch die neuartige Form des Propaganda-kriegs und durch die neuen Kommunikationstechnologien war Lateinamerika direkter als je zuvor in die Vorgänge involviert. In der Tat konnte der Krieg zum Weltereignis werden, weil die Medien ihn in der ganzen Welt vermittelten. Das galt nicht zuletzt in Lateinamerika, wo die Presselandschaft seit der Jahrhundertwende dynamisch gewachsen war und wo Auflagen und Anzeigenaufkommen insbesondere der Tageszeitungen in der Dekade der 1910er-Jahre geradezu explodierten. Aus Sicht der Rezipienten war der Krieg ein für die ganze Welt bedeutsames Ereignis, das über den bis dahin bekannten regionalen Bedeutungszusammenhang von Kriegen hinauswies. Der Erste Weltkrieg machte die Verflochtenheit der Welt und den eigenen Ort darin für Lateinamerikaner erfahrbar.

Erst jüngst haben Historiker erneut auf die Rolle der Medien im Ersten Weltkrieg und umgekehrt auf die Rolle des Kriegs für die Entwicklung der Medien hingewiesen. In Lateinamerika wie auch andernorts stimulierte der Krieg den massenhaften Einsatz neuartiger Medien wie Fotografien und Kino. Die Pressefotografie erwies sich als wichtiges Propaganda-instrument, das zur weltweiten Zirkulation von Kriegsbildern beitrug, die eine scheinbar objektive Realität abbildeten. Das Realitätsverständnis erweiterte sich, denn als real galt nicht mehr nur das eigene Erleben, sondern auch das durch das Bild mediatisierte Geschehen. Gerade dort, wo wie in Lateinamerika eine räumliche Distanz zu den Fronten bestand, erlebten Menschen den Krieg durch die Bilder der Medien im privaten und öffentlichen Raum. Hinzu kam, dass der Erste Weltkrieg dort insbesondere als Propagandakrieg stattfand, wodurch die so noch nicht dagewesene Form der radikalen Hassagitation aller Kontrahenten sich auch im Subkontinent verbreitete.

In diesem Buch steht die Perspektive Lateinamerikas im Mittelpunkt. Zentral ist die Frage nach den zeitgenössischen Deutungsmustern des Weltkriegs von Lateinamerikanern. Aus dem lateinamerikanischen Blick-winkel ist der Kontext von Gewaltausbrüchen in Betracht zu ziehen, der in diesem Subkontinent bereits 1910 mit der Mexikanischen Revolution begann. Zwar bestand kein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Bürgerkrieg in Mexiko und dem Weltkrieg, aber aus der Sicht vieler Lateinamerikaner waren beide Ereignisse ein Beispiel für den krisenhaften Zustand der Welt, die eine Welle der globalen Gewalt erschütterte und die dadurch am Ende ihrer Selbstgewissheit angekommen war. Für Lateinamerika war der Erste Weltkrieg eingebettet in ein Jahrzehnt des sozialrevolutionären Aufbruchs und der politischen Umbrüche, die zwischen 1917 und 1919 ihren Höhepunkt erreichten. Es geht in diesem Buch darum, die spezifisch lateinamerikanischen Assoziationen und Konnotationen zum Ersten Weltkrieg aufzudecken, die wie im Fall der Mexikanischen Revolution nicht immer offensichtlich sind.

Angesichts der Tatsache, dass es in dieser Studie um eine Region von kontinentalen Ausmaßen mit 19 Nationalstaaten von Mexiko im Norden bis Argentinien und Chile im Süden geht, drängen sich die Fragen nach der Heterogenität der Erfahrungen und die Zweifel an der Zulässigkeit von Verallgemeinerungen geradezu auf. Allerdings stellt dieses Buch nicht den Anspruch, jeden der nationalen Einzelfälle im Detail auszuleuchten. Es erörtert vielmehr, wie sich konkrete lokale gesellschaftliche Entwicklungen und Wahrnehmungen in Weltkontexte einbetten, beziehungsweise wie bestimmte lokale und regionale Diskurse nur im größeren globalen Diskurszusammenhang verstanden werden können. Um ein Beispiel zu nennen: Der dem globalen Süden in Antwort auf den Weltkrieg gemeine antiimperialistische Diskurs entwickelte sich in Lateinamerika durchaus eklektisch und widersprüchlich und grenzte sich von den Kolonien in Afrika und Asien ab. Denen gegenüber blieb der Überlegenheitsdünkel nicht zuletzt wegen des inneren Rassismus bestehen. Die Akteure dieser Diskurse bewegten sich in transnationalen Räumen und sie teilten ihre Erfahrungen mit einem größeren globalen Kontext. Dieses Buch hat die geteilte Geschichte Lateinamerikas während des Ersten Weltkriegs zum Gegenstand, geteilt sowohl unter den nationalen Einheiten, aus denen sich die Region zusammensetzt, als auch mit anderen Kontinenten.

Es geht nicht darum, direkte Kausalzusammenhänge herzustellen, so als habe der Erste Weltkrieg die Entwicklungen in Lateinamerika erst aus-gelöst und in diesem Zeitraum bestimmt. Sicherlich lassen sich Ursachen erkennen, etwa bei der Radikalisierung der Arbeiterbewegung ab 1917. Allerdings muss gefragt werden, inwiefern der Krieg bestimmte Tendenzen verstärkte beziehungsweise abschwächte. Zweifellos lässt sich eine Verdichtung und Beschleunigung bestimmter Prozesse während der Kriegsjahre erkennen. So machten die Zeitgenossen in Lateinamerika wie andernorts die Erfahrung des Vertrauensbruchs in die Versprechungen der Modernisierung, wenn etwa der Argentinier Carlos Ibarguren 1917 die Vorgänge in Europa mit dem Untergang des Römischen Reichs verglich und sein Landsmann Ricardo Rojas wenige Jahre später in der Rückschau die Zerstörung aller bekannten Institutionen der westlichen Zivilisation durch den Krieg konstatierte. Implizit oder explizit bezogen sich die lateinamerikanischen Kommentare in der großen Mehrzahl der Fälle auf die Modelle England, Frankreich und Deutschland, während die osteuropäischen Kriegsteilnehmer und das Osmanische Reich kaum Beachtung fanden.

Die traditionelle Ausrichtung auf europäische Vorbilder erwies sich als obsolet und die Zukunft musste neu gedacht werden. Dies ließ den Ruf nach der Neuausrichtung von Identitäten auf nationaler und regionaler Ebene lauter werden, der bereits vor dem Weltkrieg angeschwollen war. Wie in anderen Weltregionen auch war die Betonung des Nationalismus und Regionalismus in Lateinamerika eine Reaktion auf eine globale Konstellation, die durch das Zeitalter des Imperialismus hervorgerufen wurde, das im Ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt und Untergang erlebte. Insofern war Lateinamerika kein Sonderfall. Die lateinamerikanische Spezifik lag vielmehr darin, dass sich die regierenden Oligarchien ja als Bestandteil der Zivilisation Europas sahen, die im Ersten Weltkrieg unterging. Die Frage nach der Neubestimmung der eigenen Identität stellte sich daher ab 1914 hier noch dringlicher als in anderen Weltregionen. Nicht nur auf dieser Ebene wird deutlich, wie stark die globale Dimension in die lokale hineinwirkte.

Die Wahrnehmung der Wechselwirkung zwischen lokaler Entwicklung und global
n Verflechtungen während des Ersten Weltkriegs hat sich in der Historiografie zu Lateinamerika über Jahrzehnte kaum niedergeschlagen. Denn in der Geschichtsschreibung wird zumeist die Entstehungs-phase der lateinamerikanischen Staaten im "langen 19. Jahrhundert" von der Entwicklung zu modernen Massengesellschaften im 20. Jahrhundert getrennt. Klassische Überblicksdarstellungen gehen bei ihren Periodisierungen häufig von einem Wendepunkt erst um 1930 aus. Demzufolge ist die Weltwirtschaftskrise der Moment, an dem die Geschichte Lateinamerikas eine neue Richtung angenommen habe. Der Erste Weltkrieg wird nach dieser Interpretation nicht nur nicht als Umbruch in der historischen Entwicklung der Region interpretiert, er findet in den genannten Darstellungen gar nicht oder nur am Rande Erwähnung.

Dabei entstand durchaus eine frühe Geschichtsschreibung der Ereignisse. Am Kriegsende erschienen die ersten Arbeiten, die noch ganz unter dem Eindruck der Geschehnisse standen und im Sinne einer Aufrechnung argumentierten. Diese Texte konzentrierten sich einseitig auf die diplomatische Ebene und in ihrer Interpretation unterschieden sie eindeutig in Gut (Proalliierte) und Böse (Neutrale). Erst die Studie des US-amerikanischen Historikers Percy Martin von 1925 wandte sich ihrem Gegenstand weniger parteiisch zu, wenngleich seine Bewertung der mexikanischen Politik noch ganz im Schatten der antirevolutionären Affekte stand. Danach stellte der Erste Weltkrieg lange Zeit kein Thema dar, denn es überlagerte ihn die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs. Erst mit dem Aufkommen der Dependenztheorie erwachte das Interesse an der Bedeutung des ersten globalen Kriegs des 20. Jahrhunderts für Lateinamerika erneut. Allerdings war es kein Historiker, sondern der Soziologe André Gunder Frank, der 1969 die These aufstellte, dass nur durch den Bruch der externen Bindungen eine eigenständige Industrialisierung und damit Entwicklung in Lateinamerika möglich gewesen sei. Die Phase des Ersten Weltkriegs galt Frank als zentraler Beweis. Als Historiker die Thesen der Dependenztheoretiker in den Folgejahren überprüften, erwiesen sich diese größtenteils als nicht haltbar. So zeigte Bill Albert in seiner wirtschafts- und sozialhistorischen Arbeit von 1988, bis auf den heutigen Tag das Standardwerk zu diesem Themenfeld, dass während der Kriegs-jahre die Abhängigkeit von außen durch den Wirtschaftskrieg eher noch zunahm und dass der Exportsektor sogar gestärkt wurde.

Das Interesse von Frank und Albert am Ersten Weltkrieg blieb bis zum Ende des 20. Jahrhunderts die Ausnahme. Anders ist die Lage in der Nationalgeschichtsschreibung. So liegen für Länder wie Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko Studien zur Diplomatie während des Ersten Weltkriegs vor, die jedoch transnationale Verbindungen nicht berücksichtigen. Hinzu kommt, dass die 1910er-Jahre in vielen Nationalhistoriografien als Umbruchphase gelten. Für Mexiko beispielsweise ist das Jahr 1910 wegen der beginnenden Revolution zweifellos ein Markstein. Für Bolivien, Chile, Guatemala und Peru sind die Jahre 1919/20 wegen der zu diesem Zeitpunkt einsetzenden politischen und sozialen Umbrüche als wichtige Wendepunkte akzeptiert. Doch auch für kleine Länder der Region wie Nicaragua, Haiti oder die Dominikanische Republik, wo 1912, 1915 und 1916 die US-amerikanische Militärkontrolle begann, und Panama, wo 1914 kurz vor Kriegsausbruch der transozeanische Kanal eröffnet wurde und sich die Präsenz der Vereinigten Staaten ebenfalls massiv verstärkte, lassen sich klare Einschnitte erkennen. Die Kriegsjahre an sich werden dabei aber nur selten eigens thematisiert.

Ein Sonderfall ist Argentinien. Schon Rojas stellte rückblickend fest: "Im letzten Jahrzehnt haben zwei Ereignisse das Bewusstsein der Argentinier grundlegend verändert: die demokratische Reform und der Welt-krieg." In der Tat gilt das Jahr 1916 wegen des Regierungsantritts des Kandidaten der Radikalen Partei, Hipólito Yrigoyen, argentinischen Historikern als folgenschwer. Allein vier Monografien und eine Quellensammlung konzentrieren sich auf die Bedeutung des Kriegs für die Präsidentschaft Yrigoyens. Den englischen Wirtschaftskrieg in Argentinien analysiert Phillip Dehne. Neuerdings sind vor allem die sehr fundierten Auf-sätze von María Inés Tato erwähnenswert, die die Mobilisierung der städtischen Massen und die öffentlichen Kontroversen während der Kriegsjahre untersucht hat. Olivier Compagnon nimmt in seiner jüngst erschienenen Studie einen Vergleich zwischen Argentinien und Brasilien vor. Transnational und verflechtungsgeschichtlich vorgehende Arbeiten fehlen indes weiterhin. Gerade der Blick von außen auf die Region als Ganzes, der im Folgenden dominiert, ermöglicht das Erkennen grenzüberschreitender Dynamiken und damit die Erweiterung der in der Regel auf die eigene Nation fixierten Geschichtsschreibung Lateinamerikas.

War der Erste Weltkrieg lange Zeit ein marginales Thema der Latein-amerikageschichtsschreibung, so galt in noch stärkerem Maß, dass sich die Historiografie zum Ersten Weltkrieg fast ausschließlich auf die Perspektive Europas und der USA konzentrierte, wobei vor allem die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen im Mittelpunkt standen. Parallel zum Aufstieg der globalhistorischen Ansätze in der Geschichtsschreibung sind in den letzten Jahren jedoch diverse Studien entstanden, die den Krieg bewusst in seinen globalen Kontext einbetten. Einer Forderung Jürgen Kockas von 2004 folgend, haben Historiker in den letzten zehn Jahren den weiteren Sinngehalt des Begriffs "Weltkrieg" angenommen und die globale Dimension stärker untersucht. Es ist kein Wunder, dass der Blick in den meisten Fällen auf die Kolonien in Afrika und Asien beschränkt blieb beziehungsweise nur jene Gebiete einbezog, in denen der Schießkrieg zu Land und zur See stattfand, spiegelt diese Beschränkung doch den Primat des Militärischen in der Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg wider. Selten wird Lateinamerika dabei berücksichtigt und wenn, dann liegt die Konzentration in der Regel auf ausführlichen Schilderungen der See-schlachten von Coronel und den Falklandinseln von 1914. Das gilt etwa für Lawrence Sondhaus, der durchaus zutreffend im Zusammenhang mit dem Krieg von einer "globalen Revolution" spricht, ohne diesen Gedanken konsequent in seiner Darstellung umzusetzen. Erst neuerdings tritt die globale Dimension des Kriegs auch hinsichtlich der Mobilisierung wirtschaftlicher, sozialer, militärischer und kultureller Ressourcen in den Blick.

Die lateinamerikanischen Staaten, die bis 1917 vollständig und danach noch zu einem guten Teil neutral blieben, galten in der Weltkriegsgeschichtsschreibung wie alle Neutralen mit Ausnahme der später den Krieg entscheidenden Vereinigten Staaten traditionell als passiv und uninteressant. Neutralität konnte aber in den totalen Kriegen des 20. Jahrhunderts nicht mehr nur passiv gestaltet werden, da die Neutralen in das Geschehen auf vielfältige Weise eingebunden waren, ob sie es wollten oder nicht. Aufgrund ihrer Rohstoffe oder strategischen Lage verfügten sie über mehr oder weniger große Verhandlungsmacht, die es im Einzelnen auszuloten gilt, wenn man es mit den Thesen vom totalen und globalen Krieg ernst meint.

Im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Fischer-Kontroverse vor 50 Jahren fand jüngst die These von Deutschlands globalen Kriegs- und Revolutionierungsplänen erneut Aufmerksamkeit. Die Aufwiegelung und Förderung von Aufständen in der kolonialen Welt betraf auch das nur informell kolonisierte Lateinamerika. Der Geheimkrieg vor allem in Mexiko gehörte dazu und nicht nur die Deutschen, sondern auch die anderen Großmächte beteiligten sich aktiv mit ihren Spionen und vor Ort lebenden Staatsbürgern. Alle kriegführenden Mächte versuchten, soziale Revolutionen oder nationalistische Befreiungsbewegungen in den Herrschaftsgebieten ihrer Feinde zu unterstützen. Mit diesen Überlegungen rückt die imperialistische Rivalität außerhalb Europas, einer der Gründe für den Ersten Weltkrieg, wieder stärker ins Zentrum des historiografischen Interesses und mit ihr auch die Region Lateinamerika.

An diesem Punkt setzt dieses Buch an. Profitierend von der Hinwendung der Geschichtsschreibung zur Globalgeschichte wird die globale Dimension der Geschichte des Ersten Weltkriegs aus der Perspektive eines Kontinents analysiert, der zwar aus der europäischen Sicht am Rand der Ereignisse stand, sich aber durch den Flächenbrand in Europa nachhaltig veränderte. Das Innovationspotenzial ist auf dreierlei Ebenen zu verorten: erstens die Konzentration auf Lateinamerika, einer bislang in diesem Zusammenhang noch so gut wie gar nicht beachteten Region; zweitens die konsequente Aufarbeitung der sich wandelnden Weltwahrnehmungen und -deutungen aus der Perspektive des lateinamerikanischen Teils des globalen Südens; drittens die Frage nach der Periodisierung der lateinamerikanischen Geschichte, bei der die Rolle des Ersten Weltkriegs bisher nicht berücksichtigt wurde.

Die zentralen Fragen lauten: Welche Faktoren veranlassten Lateinamerikaner zwischen 1914 und 1918, den Ersten Weltkrieg als wichtigen Einschnitt für ihre eigene Lebenswelt anzusehen? Inwiefern beteiligte sich Lateinamerika direkt oder indirekt am Kriegsgeschehen? Wie nahmen Lateinamerikaner den Krieg wahr und wie deuteten sie ihn? Wie positionierten sich Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten angesichts des Zusammenbruchs ihrer auf Europa bezogenen Weltbilder neu im Kontext einer Welt im Krieg? Welche Form von Weltbewusstsein entstand in diesem Zusammenhang? Welche Zukunftsvorstellungen für die eigene Entwicklung leiteten sie daraus ab?

Dieses Buch will die Bandbreite lateinamerikanischer Erfahrungen zumindest Pars pro Toto nachzeichnen. Daher war eine umfassende Quellensammlung erforderlich, die allerdings nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Das Buch basiert auf Quellen aus den 19 unabhängigen Staaten des Subkontinents. Dabei handelt es sich um bereits publizierte Quellen und um Archivquellen aus 13 Ländern. Quantitativ ließ sich naturgemäß ein Schwerpunkt auf die Staaten mit regionalem Führungsanspruch wie Argentinien, Brasilien und Chile nicht vermeiden, waren diese doch in besonderem Maß in die Kriegsgeschehnisse involviert. Doch wurden auch Quellen etwa in Bolivien, Costa Rica, Ecuador, Guatemala, Paraguay und Uruguay herangezogen, da aus diesen im Vergleich weniger stark betroffenen Ländern oftmals wichtige Ideen und Anregungen stammten, an denen sich der Wandel der Weltbilder ablesen lässt.

Die konsultierten Quellen setzen sich aus Texten und Bildern zusammen. Bildquellen kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu, weil sie - zumindest teilweise - breitere Bevölkerungsschichten in Lateinamerika erreichten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrer großen Mehrheit Analphabeten waren. Außerdem ist diese Quellenart wichtig, weil der Erste Weltkrieg auch ein Krieg der Bilder war. So lassen sich zum Beispiel die Auswirkungen des Propagandakriegs ermessen, der direkt in Lateinamerika ausgetragen wurde. Der Krieg fand Eingang in unterschiedlichste Ebenen der Bildsprache. Daher werden auch Alltagsbilder wie Werbung und Plakate mit berücksichtigt. Bei den Textquellen handelt es sich um Archivmaterial und um amtliche Veröffentlichungen der Außenministerien. Darüber hinaus erwiesen sich zeitgenössische Publikationen unterschiedlicher Provenienz als besonders aussagekräftig. Neben autobiografischen Materialien handelt es sich um Analysen der Weltlage, völkerrechtliche Abhandlungen, satirische Kurztexte, Groschenhefte oder Propagandaschriften. Zahlreiche selbstständige Publikationen vor allem aber Periodika, die mit ihren Fotos und anderen Illustrationen entscheidend für die Verbreitung der Bilder vom Krieg sorgten, wurden in diesem Zusammenhang herangezogen. Eine umfassende Sammlung befindet sich im Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin, größtenteils sind diese Materialien aber in den jeweiligen Nationalbibliotheken und -archiven zu finden.

Die Gliederung des Buches folgt den zentralen Fragestellungen. Zu-nächst wird die Ausgangssituation skizziert. Das erste Kapitel stellt die lateinamerikanische Geschichte aus dem Blickwinkel ihrer globalen Verflechtung seit der Unabhängigkeit dar. Es diskutiert Fragen der völker-rechtlichen Einbindung der neuen Staaten und ihre Reaktionen auf neo-kolonialistische und imperialistische Bestrebungen aus Europa und den USA. Darüber hinaus werden die problematische Einbindung in den Weltmarkt und die kulturellen Dimensionen dargestellt. Bei Letzteren sind vor allem die Masseneinwanderung und die Einbindung in globale Kommunikationsnetze von Bedeutung.

Der Schwerpunkt des Buches liegt auf Lateinamerikas Verflechtung in das Kriegsgeschehen und folgt einer chronologischen Anordnung. Das zweite Kapitel analysiert die Aushöhlung der Neutralität durch den See-krieg in lateinamerikanischen Gewässern und den Streit um die Telekommunikationsverbindungen. Von entscheidender Bedeutung war der insbesondere von den Alliierten effektiv betriebene Wirtschaftskrieg, der die lateinamerikanischen Volkswirtschaften phasenweise heftig beeinträchtigte, aber auch neue Märkte und Chancen schuf. Unter den Problemen zu leiden hatte vor allem die Arbeiter- und Bauernschaft aber auch die gerade erst entstehende Mittelschicht. Besonders durch den Propagandakrieg hielt die Konflagration Einzug in den Alltag von Lateinamerikanern. Die Öffentlichkeiten erlebten nun zunehmend heftiger werdende Kontroversen, die teils handgreiflich im öffentlichen Raum ausgetragen wurden.

Das Folgekapitel zeigt, wie sich lateinamerikanische Regierungen durch den deutschen U-Boot-Krieg und den Druck der USA seit 1917 zum Abbruch der Beziehungen und zum Kriegseintritt gedrängt sahen, wobei die Regierungen in der Regel eigenen Logiken folgten. Diese Entscheidungen waren aus lateinamerikanischer Sicht einschneidend, war man doch erstmals aktiv an einem ursprünglich europäischen Konflikt beteiligt. Dadurch gewann die Problematik der ausländischen Minderheiten in einigen Ländern wie etwa Brasilien oder Guatemala eine neue Dimension. Die Deutschen galten nun als Feinde, die mit unterschiedlichen Mitteln verfolgt wurden. Andere Staaten behielten trotz der starken Sogwirkung ihre Neutralität bei, doch auch hier überlagerten die Kontroversen um die Haltung zum Krieg die öffentlichen Debatten. Den Kriegsausgang, den Friedensschluss und die Gründung des Völkerbunds, die im vierten Kapitel untersucht werden, begrüßten die Lateinamerikaner mit großem Jubel, der aber schnell der Ernüchterung wich, denn mit dem Zusammenbruch der Kriegskonjunktur, den revolutionären Bewegungen und den Reaktionen darauf von 1917/18 begann die Nachkriegszeit unter ungünstigen Voraussetzungen.

Im Mittelpunkt der beiden folgenden Kapitel steht der Wandel der Weltbilder. Kapitel fünf zeigt, wie der Krieg durch die konstante Sensationsberichterstattung Eingang in den Alltag der Menschen in Lateinamerika fand, und das schichten- und generationenübergreifend. Das über lange Jahrzehnte viel bewunderte Vorbild der europäischen Zivilisation geriet mehr und mehr zum Sinnbild der Barbarei. Fühlten sich Lateinamerikaner dem "Drama der gesamten Menschheit" bei Kriegsausbruch verbunden und beklagten das kommende Blutbad, so änderte sich das spätestens mit dem Bekanntwerden der Gräuel und Kriegsverbrechen noch im Lauf des Jahres 1914. Je größer der Abstand zu Europa wurde, desto deutlicher schien sich die "Stunde Amerikas" abzuzeichnen, desto enger verbunden fühlten sich Lateinamerikaner mit der Welt.

Eine Reaktion auf diese direkte Einbindung in den globalen Konflikt war die Rückbesinnung auf Amerika und das Projekt der eigenen Nation, das nun jedoch mit neuen Entwürfen versehen wurde. Das sechste Kapitel analysiert zunächst den Aufstieg der neuen nationalistischen Bewegungen. Die Akteure, die sich darin engagierten, Studenten- und Frauenorganisationen, Parteien, anarchistische, sozialistische und nationalistische Gruppierungen, teilten trotz der teils blutig ausgetragenen Konflikte untereinander das Streben nach Partizipat
on am öffentlichen Leben, dem sich jedoch die traditionellen Oligarchien vehement widersetzten. Handelte es sich bei diesen Akteuren auch zumeist um Lateinamerikaner mit europäischen Wurzeln, so beriefen sie sich doch oft auf das indigene Erbe. Das Konzept "Indoamerika" als neues Integrationsangebot entstand in diesem Zeitraum. Afroamerikaner waren darin nicht eingeschlossen, doch gab es bereits Stimmen, die sich gegen den Rassismus wandten und dabei antikoloniale Argumente benutzten. Die Diskussionen blieben ebenso wie die sozialen Bewegungen nicht auf einzelne Länder begrenzt, sondern stellten transnationale Phänomene dar. Das verbindende Element dabei war der nun vor allem gegen die Vereinigten Staaten gerichtete Antiimperialismus, der auch die Bemühungen um einen neuen Platz für den Kontinent auf der Weltbühne der Nachkriegszeit mitbestimmte. In der Tat war das "Drama der gesamten Menschheit" auch ein Drama Lateinamerikas, denn zwischen 1914 und 1918 änderten sich die Verflechtung des Subkontinents in den globalen Kontext und damit zusammenhängend die Weltbilder fundamental.

Lateinamerika im globalen Kontext vor 1914

Die ehemaligen spanischen und portugiesischen Kolonien in Amerika erreichten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ihre Unabhängigkeit im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Unabhängigkeitsrevolutionen Lateinamerikas bildeten den Abschluss der Serie der atlantischen Revolutionen, die mit dem Aufstand der Kolonisten in Neu-England begonnen hatte. Sie waren eng mit diesen Ereignissen verknüpft sowie mit den von der Französischen Revolution und von der anschließenden napoleonischen Expansion in Europa angestoßenen Entwicklungen. Die unabhängigen Re-publiken blieben in diesen atlantischen Kontext eingebunden, der ihnen neue Chancen bot, aber auch neue Gefahren und Abhängigkeiten barg. Er blieb im langen 19. Jahrhundert Lateinamerikas der wichtigste Bezugspunkt für die Integration der Region in den globalen Kontext.

In diesem Zeitraum sahen sich die nun formell unabhängigen Folge-staaten der iberischen Kolonialreiche zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Das Fehlen funktionierender staatlicher Institutionen, die Fortsetzung der Machtkämpfe im Innern, die Militarisierung des öffentlichen Lebens und der Aufstieg von Caudillos waren in der gesamten Region schwer zu überwindende Hindernisse auf dem Weg zur Stabilität. Die Schwierigkeiten der Staatsbildung waren nicht zuletzt auf die Skepsis gegenüber einem politischen System zurückzuführen, das nicht eindeutig klärte, wer der neue Souverän war. Formell handelte es sich um Demokratien, doch wer zum "demos", zum "Staatsvolk", gehörte, blieb vage. Die neuen Eliten definierten dies je nach Interessenlage breiter oder enger, da sie nicht das Risiko sozialer Umwälzungen eingehen wollten. Die Sprache war die der universellen Werte, die Praxis blieb sozial diskriminierend. In den ethnisch heterogenen Gesellschaften Lateinamerikas, in denen die nichtweißen Bevölkerungsgruppen die klare Mehrheit stellten, war die Kluft zwischen Freiheits- und Gleichheitsrhetorik und sozialer Realität besonders groß. Die problematische Situation der frühen Republiken war aber auch mit Entwicklungen verbunden, deren Ursachen außerhalb der Region lagen.

Von Kolonien zu unabhängigen Staaten

Der amerikanische Doppelkontinent gehörte seit 1494 zumindest der Theorie nach zum Monopolbesitz der spanischen und portugiesischen Krone. Zwar hatten die Vorstöße der europäischen Rivalen diese Monopolansprüche bereits seit dem 15. Jahrhundert erschüttert, doch hielt sich diese Auffassung auch dann noch, als die Realität bereits ganz anders aussah, als sich Engländer, Franzosen und Holländer bereits in der Karibik und andernorts dauerhaft festgesetzt hatten. Immerhin blieb in den von Spaniern und Portugiesen kontrollierten Gebieten auf dem Festland das Einwanderungsverbot für Ausländer und Andersgläubige - die Sklaven aus Afrika waren davon natürlich ausgenommen - ebenso bestehen wie das spanische Handelsmonopol. Spanier und Portugiesen hatten ein Interesse daran, den Mythos von der hermetisch abgeschotteten Sphäre aufrechtzuerhalten, um ihre Macht und ihre Reichtümer in der Neuen Welt zu sichern.

So isoliert vom Rest der Welt, wie es auf den ersten Blick scheinen mochte, war das koloniale Amerika also nicht. Schon im 16. Jahrhundert, als sich das spanische Kolonialreich in Amerika gerade konsolidierte, dehnten Portugiesen und Spanier ihre Einflusssphären weit nach Osten und Westen aus. Sie überwanden das Kap der Guten Hoffnung ebenso wie Kap Hoorn und befuhren den Indischen Ozean und den Pazifik. So bildeten sich Netzwerke des Handels und kulturellen Austauschs, die erstmals den Globus umspannten. Die neuere Forschung weist darauf hin, dass die Etablierung des regelmäßigen Schiffsverkehrs zwischen Neu-Spanien, dem heutigen Mexiko, und Manila auf den Philippinen - die so genannte Manila-Galeone - 1571 den eigentlichen Beginn der neuzeitlichen Globalisierung markiere. Schließlich bilde sie den Ursprung jener Vernetzung zwischen den stark besiedelten Kontinenten, die sich dann in späteren Jahrhunderten verdichtete und beschleunigte.

Im Zuge der kolonialen Reformen im 18. Jahrhundert erlaubten die iberischen Mutterländer dann auch offiziell eine vorsichtige Öffnung, die gegen Ende des Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte. In diesem Zusammenhang lockerten die Spanier 1765 ihr 200-jähriges Handelsmonopol. Die imperialen Zentren erreichten das Ziel, durch die Reformpolitik die Einnahmen zu steigern und den Schmuggel einzudämmen, um die Zügel in den Kolonien wieder straffer zu ziehen, nur teilweise. Ein unbeabsichtigter Nebeneffekt bestand darin, dass die davon profitierenden, bereits in Amerika geborenen Nachfahren der Europäer, die allerorts die sozialen Oberschichten stellten, mit der Reichweite der Reformen nicht zufrieden waren und eine stärkere Liberalisierung forderten. Inspiriert durch die zahlreichen wissenschaftlichen Expeditionen, die die Krone nun zur Erkundung des Potenzials ihrer Kolonien nach Amerika schickte, wollten sie eine bessere Nutzung der Ressourcen zugunsten ihrer jeweiligen Region durchsetzen. Ein zentrales Mittel auf diesem Weg sahen sie im Wegfall der kolonialen Restriktionen. Die Verehrung, die die kolonialen Eliten einem ausländi-schen Wissenschaftler wie Alexander von Humboldt auf seiner Amerikareise 1799 bis 1804 entgegenbrachten und die sich im Ehrennamen "Zweiter Entdecker Amerikas" widerspiegelt, unterstreicht das Verlangen, sich dem Geist der Aufklärung zu öffnen und sich vom immer unerträglicher erscheinenden Kolonialzustand zu lösen. So konnte der Aufruf zu einer Neuentdeckung Amerikas durch die Amerikaner, wie ihn Juan Pablo Viscardo y Guzmán 1791 niederschrieb, ein Aufruf zu einer Einbindung dieses Erdteils als gleichberechtigtes Mitglied in den Lauf des Weltgeschehens werden.

In der Tat lassen sich die Ereignisse, die sich ab 1808 in den iberischen Kolonialreichen entfalteten und zu Unabhängigkeitsrevolutionen mit ganz unterschiedlichen Zielen ausweiteten, auch als Versuch lesen, die von Spanien und - wenn auch in geringerem Maße - Portugal oktroyierte Abschottung zu überwinden. Damit ging in kultureller Hinsicht eine Abkehr von den ehemaligen Kolonialmächten einher. Spanien und Portugal galten nun als rückständig, wohingegen die Zukunft bei den als aufgeklärt und fortschrittlich angesehenen westeuropäischen Mächten Frankreich und England zu liegen schien. Mitte der 1820er-Jahre war mit der Unabhängigkeit von zwölf Folgerepubliken und einem Kaiserreich die Grundlage für die Loslösung scheinbar geschaffen. Doch konnten sich diese formell unabhängigen Staaten nun ungehindert in den weltweiten Austausch integrieren? Unter welchen Bedingungen spielten sich die Beziehungen Lateinamerikas zum Rest der Welt im ersten Jahrhundert der Unabhängigkeit ab, ehe mit dem Ersten Weltkrieg ein deutlicher Schnitt im globalen Kontext zu verzeichnen war?