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Seubert

Das Konzept des Sozialkapitals

Eine demokratietheoretische Analyse

Medium: Buch
ISBN: 978-3-593-39048-2
Verlag: Campus Verlag GmbH
Erscheinungstermin: 14.09.2009
Lieferfrist: bis zu 10 Tage
Sozialkapital ist im Zusammenhang mit der Frage nach den Grundlagen einer lebendigen Bürgergesellschaft ins Zentrum demokratietheoretischer Diskussionen gerückt. Insofern Sozialkapital mit dem Vermögen zu sozialer Kooperation verbunden wird, soll es gesellschaftliche Integration fördern. Unter welchen Bedingungen aber kann es auch zur Absonderung von Individuen und sozialen Gruppen führen und soziale Ungleichheit verstärken? In dem Buch wird der Versuch unternommen, die Potenziale und Grenzen des Konzepts für eine demokratietheoretische Analyse neu zu bewerten. Sandra Seubert schlägt ein Verständnis von Sozialkapital vor, das die integrationstheoretische Perspektive (in der Tradition von Robert Putnam) mit der machtkritischen Perspektive (in der Tradition von Pierre Bourdieu) verbindet.

Produkteigenschaften


  • Artikelnummer: 9783593390482
  • Medium: Buch
  • ISBN: 978-3-593-39048-2
  • Verlag: Campus Verlag GmbH
  • Erscheinungstermin: 14.09.2009
  • Sprache(n): Deutsch
  • Auflage: 1. Auflage 2009
  • Produktform: Kartoniert
  • Gewicht: 359 g
  • Seiten: 282
  • Format (B x H x T): 141 x 213 x 20 mm
  • Ausgabetyp: Kein, Unbekannt

Autoren/Hrsg.

Autoren

Seubert, Sandra

Sandra Seubert vertritt derzeit die Professur für Politische Philosophie an der Universität Frankfurt.

Inhalt

Einleitung 9
1. Demokratie, Bürgergesellschaft und Sozialkapital:
Ein Problemaufriss 23
1.1 Der Diskurs der Bürgergesellschaft zwischen
Bürgerbeteiligung und neuer Staatlichkeit 23
1.2 Zur politiktheoretischen Konzeptualisierung der
Bürgergesellschaft 30
1.3 Bürgerschaftliches Engagement und Sozialkapital 38
1.4 Sozialkapital und Solidarität 43

2. Gute Bürger - Gute Institutionen: What makes democracy work? 52
2.1 Das Konzept der Zivilgesellschaft bei Robert Putnam 52
2.2 Institutionelle Performanz und der Output der Demokratie 56
2.3 Chamäleon oder Wolf im Schafspelz?
Putnams kommunitaristische Agenda 63

3. Kooperation und gesellschaftlicher Zusammenhalt:
Putnams Konzept des Sozialkapitals 72
3.1 Sozialkapital und Theorien kollektiven Handelns 72
3.2 Strukturelle und kulturelle Dimensionen des Sozialkapitals 74
3.3 Interne und externe Effekte 78
3.4 Sozialkapital als öffentliches Gut 83
3.5 Resümee I: Zum Erklärungsanspruch des Konzepts 90

4. Normative Potentiale zivilgesellschaftlicher Assoziationen 100
4.1 Freiwilligkeit 101
4.2 Normen der Reziprozität 105
4.3 Vertrauen 111
4.4 Jenseits assoziationstheoretischer Perspektiven 115

5. Ziviles und unziviles Sozialkapital 118
5.1 Wann ist Zivilgesellschaft "schlecht"? Zur Differenzierung
unterschiedlicher Formen von Sozialkapital 118
Exkurs: Sozialkapital und der kulturelle Wandel
des Geschlechterverhältnisses 132
5.2 Kulturelle Differenz oder soziale Ungleichheit?
Sozialkapital und die Bedeutung sozialer Gruppen 135
5.3 Die Frage der Kongruenz: Zum Verhältnis von
Zivilgesellschaft und liberaler Demokratie 148

6. Kampf um Distinktion: Bourdieus Konzept des Sozialkapitals 162
6.1 Allgemeiner sozialtheoretischer Hintergrund 162
6.2 Differenzierung der verschiedenen Kapitalformen 166
6.3 Die Ökonomie sozialer Kämpfe 174
6.4 Resümee II: Überlegungen zu einer übergreifenden
Theorie des Sozialkapitals 181

7. Institutionelle Ermutigungsbedingungen sozialer Kooperation 192
7.1 Zur demokratietheoretischen Bedeutung generalisierten
Vertrauens 192
7.2 Genese von Vertrauen aus der Institutionalisierung von Misstrauen: Piotr Sztompka 197
7.3 Das sozialisatorische Potential institutioneller Ordnung:
Claus Offe 203
7.4 Institutionell vermitteltes Vertrauen als republikanisches
Ethos: Philip Pettit 209
7.5 Institutionen als Erfahrungsraum 223

8. Sozialkapital in der Netzwerkgesellschaft 234
8.1 Die Auflösung der "nationalen Konstellation" 234
8.2 Netzwerkgesellschaft und die Krise der Sozialintegration 238
8.3 Netzwerkethik und der "neue Geist des Kapitalismus" 246
8.4 Eine Ideologie der Aktivität? 262

Schluss 266
Literatur 271

8.4 Eine Ideologie der Aktivität?

Eine wesentliche Annahme der Analyse von Boltanski und Chiapello besteht darin, dass der jeweils epochenspezifische Geist des Kapitalismus sich in einer "Alltagsmoral" niederschlägt und dadurch die sozialen Beziehungen in ihrer Gesamtheit durchdringt. Die von strukturellen Zwängen induzierte Netzlogik der "projektbasierten Polis" hat kolonisierenden Charakter: Sie beschränkt sich nicht auf die Arbeitswelt, sondern greift auf alle Lebensbereiche aus. Insbesondere manifestiert sie sich in einem Verschwimmen der Grenzen zwischen Freizeit und Beruf, zwischen Privat- und Arbeitsleben, zwischen Ökonomischem und Sozialem. Wie sind nun die Folgen einzuschätzen, wenn die Wertigkeitsordnung der "projektbasierten Polis" die Alltagsmoral im Ganzen durchdringt? Ist ein Leben unter den Imperativen der Entgrenzung und Entbindung im Ganzen vorstellbar? Ist es plausibel anzunehmen, dass die Akteure sich ihnen voll und ganz unterwerfen?
Natürlich ist die Wertigkeitsordnung, wie wiederholt angemerkt, keine empirische Beschreibung der Welt, sondern bezieht sich auf die Ideologie, im Sinne der Vorstellung, die sie sich von sich selbst macht. Aber um Legitimationskrisen zu vermeiden, muss eine Ideologie Anker in der Wirklichkeit haben (Vorbilder, die ihr in idealer Wiese entsprechen, Institutionen, die sie verkörpern u.ä.). Gerade die sozialen Paradoxien der "projektbasierten Polis" machen es vorstellbar, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass ihre Imperative zwar hochgehalten, insgeheim aber nach Ausweichstrategien gesucht wird. Die Idee der grenzenlosen Beweglichkeit wird dann zur Ideologie (im schlechten Sinne). Um dem permanenten Innovations- und Kontaktpflegedruck zu entgehen, bestehen starke Anreize die Netze zu schließen und defensives Sozialkapital als Gruppengut anzusammeln. Um der Entgrenzung entgegenzuwirken, werden neue Grenzen gezogen. Die Diffusität der Bewährungsproben in der "projektbasierten Polis" eröffnet die Möglichkeit, andere Kriterien als die offen postulierten in den Auswahlprozess einfließen zu lassen. Mit geschlossenen Netzen lassen sich Statuspositionen ganz gut halten, zumal dann, wenn die Erfolgreichen die weniger Erfolgreichen ohnehin längst abgehängt haben. In einer Situation, in der die Ausgangspositionen hinsichtlich der Ausstattung mit ökonomischem und kulturellem Kapital ungleicher werden, in der soziale Mobilität (im Sinne von gesellschaftlichen Aufstiegschancen) abnimmt und sozialer Status sich über Generationen hinweg verstetigt, bedeutet "aktiv sein" für die einen den Zuwachs an Selbstverwirklichung, während es für die anderen zur Zumutung ("kümmere dich selbst") wird.
Vetternwirtschaft und Korruption widersprechen zwar den normativen Maßstäben der "projektbasierten Polis" und bleiben als allgemeinwohlschädlich offiziell geächtet. Aber Loyalität unter Mitgliedern einer Gruppe muss nicht gleich diese illegalen Extremformen annehmen. Gerade die Strukturen der Netzwerk-Polis bieten vielfältige Möglichkeiten, sich über Kontakte, Informationen und Beteiligungen wechselseitig Hilfe und Sicherheit zu gewähren. Diese Entwicklungen, die die Ideologie grenzenloser Beziehungsmöglichkeiten konterkarieren, müssten den vormalig negativ konnotierten Netzwerkbegriff in die sozialwissenschaftlichen Analysen zurückbringen. Welche Loyalitätsbeziehungen es sind, die zur Grundlage von Sozialkapital als Gruppengut werden können, ist eine andere Frage. Der Rückzug auf reaktive kollektive Identitäten im Sinne Castells scheint nur eine Möglichkeit zu sein. Das Durchschlagen alter Klassenstrukturen oder der Einfluss von Elitenetzwerken einer neuen "globalen Klasse" (Dahrendorf 2000) wären weitere Möglichkeiten. Dies aber ist nicht mehr allein eine Frage der Ideologie- bzw. Diskursanalyse, sondern der empirischen Sozialforschung.
Wie wirken sich die Paradoxien der Sozialkapitalbildung in der "projektbasierten Polis" auf die Aktivitäten in der Bürgergesellschaft im engeren Sinne aus? Die hohe Wertschätzung von Aktivität und das Verschwimmen der Tätigkeitsgrenzen, von Beruf und Ehrenamt, Arbeit und Freizeit, müssten eigentlich zunächst das Engagement in zivilgesellschaftlichen Assoziationen begünstigen. Es ist attraktiv, sich engagiert zu zeigen. Dagegen steht die Gefahr der normativen Entleerung bzw. strategischen Ausbeutung zivilgesellschaftlichen Engagements. Ist das Spenden von Zeit und Geld in keinen weiteren normativen Bezugsrahmen eingebunden, der das Engagement als sinnvoll erscheinen lässt, sondern allein am individuellen Ziel der "employabiliy"-Optimierung orientiert, droht das oben beschriebene Opportunismusrisiko: Man springt ab, sobald das Engagement sich in dieser Hinsicht nicht mehr lohnt. Das Engagement würde möglicherweise durch kurzfristige Begeisterung für ein Anliegen motiviert, wäre aber auf Dauer wenig belastbar.
Empirische Befunde haben in den letzten Jahren Hinweise geliefert, dass sich der Charakter zivilgesellschaftlichen Engagements in eine Richtung verändert hat, die Selbstentfaltungsmotiven (gegenüber Pflichtmotiven) größere Bedeutung zukommen lässt (Klages 2000, BMFSFJ 2005: 28). Bereits in diesem Zusammenhang wurde kritisch diskutiert, inwiefern dies den Charakter freiwilligen Engagements verändere, weil nun eine eigennutzorientierte Motivationsbasis überwiege (was sich daran zeige, dass Selbsthilfegruppen gegenüber traditioneller Vereinsmitgliedschaft den größeren Zulauf haben, Klages 2000: 160). Die in der empirischen Engagementforschung diagnostizierten Selbstentfaltungsmotive könnten sich unter dem Druck gestiegener individueller Verantwortung für Karriereplanung und berufliche Profilierung zu Selbstoptimierungsmotiven wandeln. Damit wäre im Wesentlichen ein Wandel im Selbstverhältnis der Akteure verbunden: ein eher strategisches Verhältnis zum eigenen Tun, das weniger mit einem Zuwachs an Selbstbestimmung als mit Gouvernementalität im Foucault'schen Sinne zu tun hätte. Während Selbstentfaltung noch auf eine Idee ethischer Autonomie und individuell gelungenen Lebens Bezug nimmt, ist Selbstoptimierung auf die Zurichtung der eigenen Persönlichkeit und Biographie entlang von Standards ausgerichtet, die als (nicht selbst gewählte) Zwänge gar nicht mehr reflektiert werden. Die Veränderungen im Selbstverhältnis der Akteure ließen sich als Teil eines Prozesses diagnostizieren, der die Grenzen zwischen Ökonomischem und Sozialem (bzw. Politischem) auflöst.
Vor dem Hintergrund der von Boltanski und Chiapello analysierten Rechtfertigungsordnung des "neuen Geists des Kapitalismus" erscheint auch der Ruf nach einer verstärkten Förderung bürgerschaftlichen Engagements im Rahmen des zu Beginn skizzierten Diskurses der "neuen Staatlichkeit" in einem anderen Licht. Könnte die öffentliche Aufwertung von Sozialkapital und seine Beschwörung von Seiten eines "aktivierenden Staates" sich als Element einer "aktivgesellschaftlichen Formierung weiter Lebensbereiche" erweisen (Lessenich 2006: 337)? Überlappungen mit dem Anforderungsprofil des "flexiblen Menschen" (Sennett) und der Prämierung von Aktivität in der "konnexionistischen Welt" sind nicht von der Hand zu weisen. Aus Wirtschaft und Politik ertönt eine ähnliche Melodie: Sei aktiv, flexibel, mobil. Wenn Du schon keinen Job findest, engagiere Dich wenigstens bürgerschaftlich - das erhält bzw. verschafft dir Qualifikation. Wenn Du schon so früh Rente beziehst, sei wenigstens weiterhin aktiv und gib der Gesellschaft auf diese Weise etwas zurück. Verlasst Euch nicht auf den Staat, wenn Ihr öffentliche Güter genießen wollt … ! Im Kontext der Reform eines angeblich "passivierenden" Wohlfahrtsstaates besteht die Möglichkeit eines ideologischen Gebrauchs des Sozialkapital-Konzepts und einer Indienstnahme für eine neoliberale Demontage institutionalisierter Solidarität. Ebenso wie bei Bourdieus Thematisierung von Sozialkapital liegt die Bedeutung von Boltanskis und Chiapellos Analyse gesellschaftlicher Rechtfertigungsordnungen in ihrer (macht)kritischen Stoßrichtung. Für eine demokratietheoretische Betrachtung des aktuellen Diskurses der Bürgergesellschaft, die auch die Widerstände gegen die Verwirklichung ihrer normativen Prinzipien reflektiert, ist dies unverzichtbar.