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Wöhrle

Metamorphosen des Mängelwesens

Zu Werk und Wirkung Arnold Gehlens

Medium: Buch
ISBN: 978-3-593-39196-0
Verlag: Campus Verlag GmbH
Erscheinungstermin: 08.03.2010
Lieferfrist: bis zu 10 Tage
Die jüngsten Arbeiten zur wieder verstärkt rezipierten philosophischen Anthropologie haben deren umstrittensten Vertreter, den Philosophen und Soziologen Arnold Gehlen, meist stiefmütterlich behandelt. Auch Untersuchungen zum Einfluss politisch belasteter Autoren auf das intellektuelle Leben der Nachkriegszeit mieden ihn weitgehend. Diese Arbeit schließt eine doppelte Lücke, indem sie - vor allem mit Blick auf überraschend aktuelle handlungstheoretische Einsichten - die analytische Kraft seiner beiden Hauptwerke "Der Mensch" und "Urmensch und Spätkultur" rekonstruiert, ohne deren ideologische Dimensionen zu verschweigen. Daran anschließend wird erstmals die enorme, aber oft verdeckte Wirkung nachgezeichnet, die das so kontroverse Denken Gehlens auf bedeutende Sozialwissenschaftler nach 1945 hatte, unter anderem auf Jürgen Habermas und Niklas Luhmann.

Produkteigenschaften


  • Artikelnummer: 9783593391960
  • Medium: Buch
  • ISBN: 978-3-593-39196-0
  • Verlag: Campus Verlag GmbH
  • Erscheinungstermin: 08.03.2010
  • Sprache(n): Deutsch
  • Auflage: 1. Auflage 2010
  • Serie: Theorie und Gesellschaft
  • Produktform: Kartoniert
  • Gewicht: 602 g
  • Seiten: 459
  • Format (B x H x T): 141 x 218 x 33 mm
  • Ausgabetyp: Kein, Unbekannt

Autoren/Hrsg.

Autoren

Wöhrle, Patrick

Inhalt

Einleitung

1. Handlung bei Arnold Gehlen - Schlüsselprinzip oder "Schlüsselattitüde"?
1.1 Anmerkungen zu Werkgenese und Entstehungskontext, Begründung der Quellenwahl
1.2 Die Handlung im Horizont der elementaren Anthropologie
1.2.1 Kommunikatives Handeln
1.2.2 Handeln als Zwecktätigkeit
1.2.3 "Irrationale Erfahrungsgewissheiten" - Handlungstheoretische Inkonsistenzen und die Vorbereitung der institutionentheoretischen Fragestellung
1.3 Die Handlung im Horizont der Institutionenlehre
1.3.1 Handeln als Selbstzweck: Gehlens Kritik des Zweck-Mittel-Denkens
1.3.2 "Von-den-Dingen-her-Handeln": Die Auslöserwirkung des Gegenstandes
1.3.3 Handeln qua Gewohnheit
1.3.4 Rituell-darstellendes Handeln

2. Denkmotive, Denkzwänge

2.1 Selbstentfremdung, Selbstformierung, Selbststeigerung
2.2 Die Aporien des metafunktionalistischen Blicks
2.3 Beschädigungen aus dem reflektierten Leben
2.4 Halbierter Pragmatismus und Dingsozialität
2.5 Sozialphilosophische und ethische Konsequenzen

3. Wirkungsgeschichte(n) und Wahlverwandtschaften

3.1 Vorbemerkungen zur Methode und zu den Kriterien der Wirkungsgeschichte

3.2 Helmut Schelsky: Wegmarken einer Schülerschaft zwischen Popularisierung und Kritik
3.2.1 Die Vermittlungsposition Schelskys
3.2.2 "Bewusstseinsbedürfnisse" und die Institutionalisierbarkeit der Dauerreflexion
3.2.3 Auf der Suche nach Wirksamkeit? Zwischen Popularisierung, Assimilation und Anschlussfähigkeit
3.2.4 Vom "Sachzwang" zur "Anti-Soziologie"

3.3 Die Sprache als Metainstitution? Gehlen, Habermas und die diskursethische Umdeutung der Institutionenlehre
3.3.1 Erste Koordinaten der Motivverwandtschaft
3.3.2 Mit Gehlens Anthropologie gegen die Dialektik der Aufklärung
3.3.3 Der Blick auf Marx durch Gehlens Brille
3.3.4 Das Eigenrecht des institutionellen Rahmens
3.3.5 "Zwecklos obligatorisches Handeln": Konvergenzen in der phylogenetischen Rekonstruktion kollektiver Moral
3.3.6 Zwischen moralischer Alltagsintuition, Dauerreflexion und Letztbegründung
3.3.7 Die Sprache als Meta-Institution? Verständigungsinstitutionalismus bei Karl-Otto Apel und Dietrich Böhler

3.4 Funktionen und Folgen systemtheoretischer Transformation - Die Verwahrscheinlichung des Unwahrscheinlichen bei Gehlen und Luhmann
3.4.1 Entlastung und Komplexitätsreduktion
3.4.2 Grenzen des Zweck-Mittel-Schemas: Handlungstheoretische Konvergenzen zwischen Gehlens Anthropologie und Luhmanns Organisationssoziologie
3.4.3 Trennung des Motivs vom Zweck und Affinitäten des Symbolbegriffs
3.4.4 Umschlag in den Selbstzweck
3.4.5 Funktionen und Folgen systemtheoretischer Transformation
3.4.6 Lässt sich die Institutionalisierung institutionalisieren?
3.4.7 Diesseits der Kulturkritik
3.4.8 Die Verwahrscheinlichung des Unwahrscheinlichen

3.5 Die Sozialisation des "Mängelwesens" - Dieter Claessens' Sozialanthropologie
3.5.1 Primäre Sozialität und formale Instinktprinzipien oder die phylogenetische Sozialisierung des Mängelwesens
3.5.2 "Mittlere Entlastungen" oder die ontogenetische Sozialisierung des Mängelwesens
3.5.3 "Bist Du Deutschland?" Die Vermittlung von Konkretem und Abstraktem als motivationales Ursprungsproblem der Institutionen

3.6 Institutionenanalyse als "kritische Theorie" - Karl-Siegbert Rehberg: Ein Lehrer-Schüler-Verhältnis in stabilisierter Spannung
3.6.1 Erkenntnistheoretische Grundreflexionen und die "Perspektive der Betroffenheit"
3.6.2 Abstraktion, Autonomisierung, Akkumulation: Merkzeichen einer kritischen Theorie der Institutionen
3.6.3 Die "Leitidee" im Kampf um Deutungshoheiten
3.6.4 Institutionelle Symbolizität zwischen Transzendierung und Verflüssigung

4. Schlussbetrachtung: Metamorphosen des Mängelwesens

Danksagung

Siglen
Literatur
Personenregister

Einleitung

Als das "Satyrspiel" eines "aus dem Tritt geratenen Rechtsintellektuellen, der den lebensgeschichtlichen Aporien seiner Rolle nicht mehr gewachsen ist", qualifizierte Jürgen Habermas die 1969 erschienene letzte große Schrift des Philosophen und Soziologen Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Vergegenwärtigt man sich, dass die Diskussion um dieses wahrlich sperrig-idiosynkratische Alterswerk bis in die Redaktionsstuben des SPIEGEL hineinreichte und in einen Artikel von Rudolf Augstein mündete, der die damit zugleich performativ in die Taufe gehobene "Habermas-Gehlen-Kontroverse" handlich auf eine Konfrontation zwischen marxistischem Links- und biologistischem Rechtsintellektualismus zusammenstrich, nimmt es kaum wunder, dass die Erwähnung Gehlens bis heute meist von distanzierenden, entschuldigenden, rechtfertigenden oder aber kalkuliert provokativen Gesten begleitet wird.

Noch weniger kann überraschen, dass das seit Mitte der neunziger Jahre wiedererwachte Interesse an der Philosophischen Anthropologie das Werk Gehlens meist nur als "Verfallssymptom" in den Blick nimmt oder vorsorglich gleich ganz aus den ernst zu nehmenden Entwürfen dieses Denkansatzes hinauskomplimentiert: Der "Denkmeister der Konservativen" scheint besonders ein Stachel im Fleisch der sich mehrenden Versuche zu sein, diese intellektuelle Strömung - unter verstärkter Berücksichtigung Helmuth Plessners - im Lichte eines "liberale[n] Gesellschaftsethos" zu interpretieren, das mit einem Plädoyer für grenz- und ausdruckssensible Vermittlungsformen der menschlichen Subjektivität den Vergemeinschaftungsideologien von rechts wie links widerstehen konnte.

Zu den Gründen, die heute eine eingehendere Beschäftigung mit Gehlen blockieren, ist sicherlich auch der Umstand zu zählen, dass seine Grundgedanken in einen seltsamen Resonanzraum zwischen allgemeiner (Selbst-)Verständlichkeit und ebenso allgemeiner Empörung eingelassen sind. Einerseits sind bestimmte von ihm eingeführte, beanspruchte oder weiterentwickelte Schlüsselbegriffe (Reizüberflutung, Entlastung, Weltoffenheit) so weit in die Fundamente verhaltens- und teils auch populärwissenschaftlichen Vokabulars eingesickert, dass sich hier eine nähere Beschäftigung bereits aus Gründen der Distinktion zu erübrigen scheint. Andererseits ist besonders der Institutionenbegriff Gehlens nach wie vor eine Art aversiver Schlüsselreiz für die Abgrenzungsbedürfnisse "liberaler" Sozialtheorien, und so fristet dieser Autor eine eigentümliche Mehrfachexistenz im wissenschaftlichen Kollektivbewusstsein, die als "doppelter Gehlen" vielleicht am anschaulichsten zu bezeichnen ist.

Aus verhaltenswissenschaftlichen Kontexten ist gewissermaßen der Gehlen der "sensomotorischen Kreisprozesse" vertraut, der - ideologisch eher unverdächtig - die Frage stellt, wie ein Handeln beschaffen ist, das nicht mehr auf Mechanismen instinktiver Steuerung zurückgreifen kann. Die berühmte Bestimmung des "Mängelwesens" hat hier die heuristische Funktion, durch den Mensch-Tier-Vergleich eine Kontrastfolie zu entwerfen, auf der Phänomene wie das gesteigerte Neugierverhalten des Menschen, sein Talent zur "Sachlichkeit" und "Gegenstandskommunikation", die Möglichkeit produktiver Sinnessynthesen (Hand-Auge-Kooperation) oder die Effekte sensomotorischer Rückkoppelungsprozesse genauer beschreibbar sind als durch die kognitivistischen Vorannahmen einer auf "Intelligenz" oder "Geist" abhebenden Beobachtungsebene.

Wer dem Namen Gehlen aber in politologischen oder soziologischen Zusammenhängen begegnet, assoziiert mit ihm wohl eher das Bild eines entschiedenen Kulturpessimisten, der desillusioniert die Zeit der "Nach-Geschichte" und die Herrschaft der "Sachzwänge" ausruft, nachdem seine Predigt eines rigorosen Institutionalismus, der das im eigenen Antriebsleben herumirrende Mängelwesen an die Leine nimmt, in der Moderne ungehört verhallte. Hier handelt es sich rezeptionstypologisch um den Gehlen eines theoretischen Radikalismus, der das "nicht festgestellte Tier" vor sich selbst schützen will, indem er diesem aufträgt, sich von gesellschaftlichen Großmächten - so die in diesem Zusammenhang wohl bekanntesten Zitate - "konsumieren" oder "verbrennen" zu lassen.

Wie sehr dieser verständlicherweise affektbesetzte Resonanzraum noch den Widerhall bestimmt, den Gehlen auch in aktuellen Überblicksdarstellungen findet, lässt sich an den Zuspitzungen Gerhard Arlts ersehen, der dessen Werk und Wirkung irgendwo zwischen rhetorischer Popularisierung und tendenziöser Politisierung der Philosophischen Anthropologie verortet. Arlts implizite Enttäuschung darüber, dass die (plessnerschen) "Werte, die einer offenen Gesellschaft zur Ehre gereichen", bei Gehlen tatsächlich unauffindbar sind, wird sogleich flankiert von der Annahme, dass dessen wissenschaftliches Profil sich größtenteils in einer reaktionären Ausdeutung der originären Theorieleistungen von Scheler und Plessner erschöpfe: Gehlen - so Arlts apodiktisches Urteil - "revolutioniert das vorgefundene Anthropologie-Modell nicht, er versetzt Akzente, spitzt polemisch zu und gerät dabei immer wieder in das Fahrwasser einer konservativen Kulturkritik", er popularisiere den Theorieansatz der Philosophischen Anthropologie "durch suggestive Formeln und schlagkräftige Begriffe", in die er seine Ordnungssehnsucht einkleide. Durchschaue man - wie Arlt es wohl für sich in Anspruch nimmt - diese rhetorischen Finessen, trete hinter Gehlens Handlungsbegriff das "bedingungslose Gehorsamsgebot" als eigentliches Grundmotiv seiner Anthropologie hervor, und seine berühmt-berüchtigte Institutionenlehre gebe sich als die theoretische Konsequenz aus der Faszination zu erkennen, die Gehlen für "das lautlos funktionierende System, das diskrete Summen einer gut geölten Staatsmaschinerie" zeitlebens gehabt hätte.

Angesichts dieser durchaus repräsentativen Einschätzung, aber auch im Hinblick auf die unrühmliche Rolle, die Gehlen im Wissenschaftsbetrieb des Nationalsozialismus spielte, muss das hier vorgelegte Unternehmen, Gehlens anthropologisches Œuvre und dessen Wirkung zum Gegenstand einer ausführlichen Monographie zu machen, wenn nicht selbst als anstößig, so doch als rechtfertigungsbedürftig erscheinen - dies umso mehr, als es in seinem spezifischen Zuschnitt den Eindruck einer Rehabilitierung erwecken mag. Tatsächlich wird die Untersuchung ihr Ziel dann erreicht haben, wenn gängigen Aburteilungen wie der eben wiedergegebenen besonders in zwei Hinsichten künftig mit einer gehörigen Portion Skepsis begegnet wird: Erstens soll belegt werden, dass Gehlens Anthropologie gerade durch ihre mehrschichtige und keineswegs widerspruchsfreie Breite einen phänomenologisch sensiblen Beobachtungsreichtum enthält, der über das durchaus vorhandene Ziel einer Begründung autoritärer Ordnung stets weit hinausschießt und dessen möglicher Beitrag zu einer nichtrationalistischen und utilitarismusskeptischen Handlungstheorie, wie sie sich in den heutigen Sozialwissenschaften besonders unter der verstärkten Berücksichtigung des US-amerikanischen Pragmatismus ankündigt, noch unausgeschöpft ist. Zweitens bleibt nachzuweisen, dass diese Vielschichtigkeit auf die westdeutsche Soziologie nach 1945 trotz - oder gerade wegen - des Fehlens einer expliziten Schulbildung eine oft subkutane und politisch keineswegs zu vereindeutigende Wirkung entfaltete, die in eine Vielzahl von heterogenen Anknüpfungen, überraschenden Motivverwandtschaften und unverhofften Diskursüberschneidungen einmündete.

Da diese gerade umrissene Zielsetzung wohl alle Chancen hat, als tendenziöses Unterfangen betrachtet zu werden, sollen naheliegende Missverständnisse schon gleich zu Beginn ausgeräumt und Motivation wie Methode des Projektes etwas genauer und anschaulicher erläutert werden. Die hier ausdrücklich vertretene These, dass im Falle Gehlens zwischen politisch belasteter Biographie, intellektueller Attraktivität und wirkungsgeschichtlicher Bedeutsamkeit keineswegs ein zwangsläufiger und dichter Zusammenhang besteht, will sich nicht auf die verführerisch säuberliche Trennbarkeit von "wissenschaftlicher" und "weltanschaulicher" Ebene berufen. Noch weniger will sie sich beteiligen an dem paradoxen Versuch eines neurechten Nonkonformismus, Gehlen zum Ahnherrn eines "neuen Realismus" aufzubauen, der heroisch und von allen liberalen und libertären Denkmoden unbeirrt an der "unbequemen" Wahrheit der institutionellen Stabilisierungsbedürftigkeit des Menschen festgehalten habe. Vielmehr fühlt sich diese Arbeit einer methodischen Herangehensweise verpflichtet, die sich zwischen leichtfertiger Affirmation und kämpferischer Ideologiekritik schon deswegen nicht entscheiden kann und will, weil weder das Werk noch die Wirkung Gehlens die programmatische Einheitlichkeit besitzen, auf die solche Werturteile sich beziehen müssten.